Evidence-based Maintenance – von gewollten und ungewollten Ereignissen

Eine Forschungsgruppe am CSEM hat ein System entwickelt zur Überwachung von Produktionsanlagen, das anstelle einer Vielzahl verschiedener Sensoren lediglich ein Ultraschallmikrofon nutzt. Bemerkenswert an diesem Showcase ist nicht nur das Produkt, sondern auch die Geschichte dahinter.

Bild: CSEM

Neue Herausforderungen der produzierenden Industrie

KMU aus der produzierenden Industrie stehen zunehmend vor der Herausforderung, den Erhalt ihres Know-how sicherzustellen. Grund ist eine veränderte Arbeitskultur, die dazu führt, dass Mitarbeiter:innen nur noch vier oder fünf Jahre im Unternehmen bleiben – und nicht mehr zehn Jahre, zwanzig Jahre oder länger. Dies stellt Unternehmen vor die Herausforderung, implizites Wissen im Unternehmen zu halten. Implizites Wissen meint Know-how, also etwas, das ein Mensch kann, ohne dass er erklären kann, was getan wird und wie. Oftmals handelt es sich beim Unterhalt von Produktionsanlagen und besonders beim Erkennen von Normabweichungen um Erfahrungswissen, das sich kaum in Lehr- oder Handbüchern finden lässt. Die erfahrene Fachkraft weiss intuitiv, dass etwas nicht stimmt.

Ein weiterer Faktor ist der sich verschärfende globale Wettbewerb. Die Folge davon ist Preisdruck, was wiederum dazu führt, dass die Zeit, in der Produktionsanlagen stillstehen, immer teurer wird. Somit müssen die Zeiten, in denen Maschinen stillstehen, auf das Minimum reduziert werden.

Ungewollte Ereignisse und wie sie vermieden werden sollen

Systeme zur Überwachung von Produktionsanlagen, die feststellen, ob die Anlage korrekt funktioniert oder ob die Qualität der produzierten Teile stimmt, reagieren auf diese beiden Herausforderungen. Solche Anlagen zählen zum Bereich der evidenzbasierten Instandhaltung (Evidence-based Maintenance) und gehören zum Industrial Internet of Things (IIoT) und der Industrie 4.0, also der Vision einer vollständig digitalisierten und vernetzten Produktion. In den letzten Jahren war immer häufiger die Rede von Predictive Maintenance, der vorausschauenden Instandhaltung. Das Ziel der vorausschauenden Instandhaltung ist, dass bei einem gut vermessenen Maschinenpark allfällige Ausfälle schon detektiert sind und die notwendigen Schritte unternommen werden, bevor die Maschine tatsächlich ausfällt.

In den meisten Fällen werden die zu überwachenden Produktionsanlagen mit verschiedenen Sensoren ausgestattet, um Abweichungen festzustellen. Solche Sensoren messen etwa den Druck, die Temperaturentwicklung, Bewegungen oder Vibrationen. Auch Kameras kommen zum Einsatz. Diese Daten werden dann maschinell ausgewertet, heute meist mit einem neuronalen Netzwerk. Bei Projekten zur Umsetzung von diesen Überwachungssystemen liegt eine der wesentlichen Herausforderungen darin, jene Anomalien zuverlässig in den Daten zu entdecken, die auch tatsächlich Einfluss auf das Funktionieren der Produktionsanlage oder auf die Qualität der produzierten Teile haben.

Tatsächlich aber sind auch die Unmengen an Sensordaten eine Herausforderung. Weil es sich dabei um grosse Datenmengen handelt und die unterschiedlichen Sensordaten aufeinander abgestimmt und ausgewertet werden müssen.

Gemeinsam mit den Industriepartnern Aurovis AG, KNF Flodos AG, Maxon Motor AG und Schurter AG hat das CSEM in der Zentralschweiz ein solches System entwickelt, das kontinuierlich den Zustand von Fertigungsmaschinen überwacht. Der Clou bei dem System des CSEM ist, dass die Vielzahl an Sensoren, die sonst für solche Überwachungssysteme genutzt werden, durch ein Ultraschallmikrofon ersetzt werden. Mario Russi, Projektleiter und Senior Engineer, vergleicht es so: «Alle Autofahrer:innen hören bei ihrem Auto sofort, wenn etwas mit dem Motor nicht stimmt und das Auto einen Service braucht». Ultraschallmikrofone machen eigentlich nichts anderes; sie registrieren die von der Maschine verursachten Schallwellen. Allerdings sind Ultraschallmikrofone in der Lage, Frequenzen zu registrieren, die weit über das von Menschen hörbare Spektrum hinausgehen. Während Menschen nur bis knapp 20 Kilohertz hören, sind diese Mikrofone in der Lage, ein Frequenzspektrum bis 150 Kilohertz aufzuzeichnen.

Das System des CSEM hat den Reifegrad eines Prototyps. Dieser ist in der Lage, festzustellen, ob die überwachte Maschine reibungslos funktioniert oder ob es an einer Stelle harzt. Auch wenn das System den Goldstandard noch nicht ganz erreicht. Derzeit können 80 Prozent der Fehler identifiziert werden und der Ansatz ist vielversprechend: Bestehende Produktionsanlagen müssen nicht umgerüstet werden und die Mikrofone sind viel simpler in der Installation als viele andere Sensoren.

Gegenwärtig beschäftigt sich die Forschungsgruppe in einem Nachfolgeprojekt mit der Frage, ob es zudem auch möglich ist, den detektierten Fehler zu lokalisieren: Ähnlich wie Menschen oder Tiere mit zwei Ohren Geräusche im Raum verorten können und hören, woher ein Geräusch kommt, müsste ein Verbund aus mehreren Mikrofonen ebenfalls in der Lage sein, festzustellen, wo sich eine Schallquelle befindet. In der Umsetzung zeigen sich Tücken. So können Schallwellen von Wänden reflektiert oder abgeschwächt werden. Die Krux dabei ist, je nach Frequenzspektrum verhalten sich Schallwellen anders; während ein Klang mit Frequenz A von einer Wand verschluckt wird, wird Frequenz B verstärkt. Entsprechend schwierig ist es, die verschiedenen Mikrofone so zu triangulieren, dass sie minutiös aufeinander abgestimmt sind und die minimalen Unterschiede in Lautstärke und Zeitpunkt so genau erfasst werden, dass sie Aufschluss über den genauen Ort des Fehlers geben.  

Die Geschichte hinter dem Produkt: Unvorhersehbar und doch gewollt

Das CSEM ist ein international anerkanntes Schweizer Technologie-Innovationszentrum und wird gemeinsam vom Bund, von den Kantonen und einigen Industrieunternehmen getragen. Ziel ist, bahnbrechende Technologien mit starken gesellschaftlichen Auswirkungen zu entwickeln und diese in die Industrie zu überführen. Die meisten Projekte werden in Kooperation mit Unternehmen durchgeführt. Das Projekt ist entstanden, um ein physisches Demonstrationssystem zu betreiben, das interessierten Unternehmen zeigt, was die aktuelle Technologie zu leisten vermag und wie ein solches Projekt konkret angegangen werden kann.

Als verschiedene Sensoren für dieses Demonstrationsprojekt evaluiert wurden, trafen sich Philipp Schmid, Leiter Forschung und Business Development im Bereich Industrie 4.0 und Machine Learning, und Marco Gumprich zufällig in der Nachbarschaft. Gumprich ist Geschäftsführer der Elekon AG, dem Unternehmen, das diese Mikrofone herstellt. Wie bei nachbarschaftlichen Gesprächen üblich erzählten sie sich von ihrem Alltag, von ihrer Arbeit und aktuellen Problemstellungen. Marco Gumprich berichtete von Mikrofonen, die bei Windkraftwerken genutzt werden, um Fledermäuse zu klassifizieren und Aufnahmen bis weit über das von Menschen gehörte Spektrum erlauben. Auf die Rückfrage, wie sie diese Mikrofone denn testen würden, da es wohl schwierig sei, Fledermäuse im Elektroniklabor zu halten, erzählte Gumprich, dass Reissverschlüsse und Zugfahrten geeignet seien, in denen Metall an Metall reibt. Dabei entstehen mitunter sehr hohe Frequenzen. Bei diesem Gespräch ging Schmid ein Licht auf. Nämlich, dass ein solches Mikrofon auch Aufschluss über unerwünschte Zustände von Produktionsanlagen geben müsste. Schmid nahm das Mikrofon mit. Philipp Schmid sagt dazu: «Versuche, den Status von Maschinen mit Mikrofonen zu identifizieren, gibt es schon seit den 1980er-Jahren. Mit herkömmlichen Mikrofonen hat das aber in realen Produktionsumgebungen mit vielen Störgeräuschen nur beschränkt funktioniert». Die Resultate mit Ultraschallmikrofonen sind, wie der gegenwärtige Projektstand zeigt, vielversprechend.

Die Anekdote verdeutlicht drei Aspekte, die für alle Digitalisierungsprojekte von Bedeutung sind. Erstens, Innovationen lassen sich nicht planen. Vielmehr sind sie eine Folge von Serendipität, dem folgenreichen Zufall. Zweitens gibt es Umstände, die Innovationen wahrscheinlicher machen. Dazu gehören einerseits Neugier und die Fähigkeit, nicht in vorgefertigten Lösungen zu denken. Drittens verdeutlicht diese Anekdote, wie wichtig und folgenreich offene Gespräche sein können. Sie sind von elementarer Bedeutung für jegliche Innovationsprozesse, weil sie zu neuen Ideen anregen und Wissenstransfer ermöglichen.

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