Der Personenverkehr auf der Strasse dürfte zukünftig mehrheitlich elektrisch angetrieben werden. Die Batterien aller Elektroautos auf den Schweizer Strassen haben dann zusammengenommen eine riesige Speicherkapazität, die auch dann eine Leistung erbringen können, wenn die Fahrzeuge parkiert sind.
Bild: Mobility
Elektroautos werden am Stromnetz «aufgetankt». Einerseits steigert ihre starke Zunahme die Stromnachfrage und kann die Netzstabilität gefährden, falls die Fahrzeuge nicht intelligent geladen werden. Andererseits stehen private Personenfahrzeuge meist auf einem Parkplatz und fahren nur einen kleinen Teil der Zeit. Mit der Technologie des bidirektionalen Ladens sind Elektrofahrzeuge in der Lage, Strom nicht nur aus dem Netz zu beziehen, sondern auch ins Netz zurückzuspeisen. Sie werden zu Powerbanks, die die Stromversorgung bei Bedarf entlasten. So hat die japanische Regierung nach Fukushima die Autohersteller im Land verpflichtet, dass die Elektrofahrzeuge bidirektionales Laden ermöglichen müssen: Dies ist seit 10 Jahren Standard in japanischen Autos. Es geht in Japan darum, in Krisen auf die in den Fahrzeugbatterien gespeicherte Energie zugreifen zu können.
Damit bidirektionales Laden möglich ist, müssen einerseits die Fahrzeuge und Ladestationen technisch dafür ausgelegt sein. Andererseits muss auch eine automatisierte Kommunikation zwischen der Ladestation und dem Stromnetzbetreiber über das Internet stattfinden, um deren Bedürfnisse – innerhalb der von den Fahrzeugbesitzerinnen und -besitzern freigegebenen Batteriekapazität – abzustimmen und zu steuern, wann geladen oder entladen wird. So können Elektroautos mit ihren Batterien Flexibilität bereitstellen, um Lastspitzen im Stromnetz auszugleichen und für Standorte mit Solaranlagen den Eigenverbrauch zu optimieren. Diese Wirkung wird grösser, wenn die Speicherkapazitäten vieler Fahrzeuge koordiniert genutzt werden. Im Pilotprojekt «V2X Suisse» soll aufgezeigt werden, welches Potenzial bidirektionales Laden in der Schweiz hat und für welche Akteurinnen und Akteure sich daraus ein wirtschaftliches Geschäftsmodell ergeben kann. Unter der Leitung von Mobility sind daran der Automobilhersteller Honda, der Software-Entwickler Sun2wheel, der Ladestationen-Entwickler EVTEC, der Aggregator Tiko Energy Solutions und Novatlantis als wissenschaftlicher Begleiter beteiligt. «Es braucht eine enge, sektorübergreifende Zusammenarbeit mehrerer Spezialistinnen und Spezialisten, die bereit sind, ihr Know-how auf den Tisch zu legen und gemeinsam ein Problem zu lösen», ist Marco Piffaretti, der Projektleiter von Mobility und Präsident von Sun2wheel überzeugt.
Am Pilotprojekt sind 50 bidirektionale Elektrofahrzeuge des Carsharing-Anbieters Mobility an 40 Standorten über die ganze Schweiz beteiligt. Diese sollen ihre Batteriespeicher gebündelt zur Stabilisierung der Stromnetze zur Verfügung stellen, wenn sie nicht zum Fahren benötigt werden. In erster Linie müssen die Fahrzeuge aber ausreichend geladen für die Kundinnen und Kunden verfügbar sein. Dies wird mit einer neu entwickelten Software erreicht, welche aus den Buchungen im Reservierungssystem die benötigte Ladung bzw. freie Batteriekapazität der Fahrzeuge viertelstündlich für zwei Tage im Voraus berechnet und minutengenau aktualisiert. Die freie Kapazität wird der Übertragungsnetzbetreiberin Swissgrid, dem lokalen Netzbetreiber oder einem Solaranlagenbetreiber am Fahrzeugstandort angeboten. Dieses System liesse sich zukünftig auf andere Flotten von Firmenfahrzeugen mit einem zentralen Buchungssystem oder auf Privatfahrzeuge übertragen, welche auf einer Plattform einen Teil ihrer Speicherkapazität anbieten.
Aus dem laufenden Projekt «V2X Suisse» lassen sich erste Erkenntnisse ableiten: Es wurde gezeigt, dass die Zusammenarbeit der verschiedenen Partner:innen genügend rasch funktioniert, damit das System zur Regelung des Schweizer Übertragungsnetzes beitragen kann. Weiter scheint aus der Bereitstellung der flexiblen Speicherkapazität der Fahrzeugbatterien am Energiemarkt ein finanzieller Ertrag möglich. Für eine Aussage, unter welchen Bedingungen das bidirektionale Laden am wirtschaftlichsten ist, müssen aber bis zum Projektende noch mehr Erfahrungswerte gesammelt werden.
Eigentlich sind die Voraussetzungen für das Projekt bei den geteilten Fahrzeugen von Mobility schwierig, weil die Stehzeiten viel geringer sind als bei Privatfahrzeugen. Wenn also hier ein Nutzen erwirtschaftet werden kann, dann sollte das System für alle Elektroautos in der Schweiz funktionieren. Und das werden immer mehr: Die Branche geht bis 2035 von 2,4 bis 2,9 Millionen Fahrzeugen aus, diese könnten zusammengenommen eine Strommenge speichern, die mehr als ein Drittel des maximalen Energieinhaltes aller Pumpspeicherkraftwerke des Landes ausmacht.
Damit sich das bidirektionale Laden durchsetzen kann, ist es «Zeit, die Entwicklung der Technologie in der Schweiz ernsthaft zu diskutieren und die Änderung der entsprechenden regulatorischen Rahmenbedingungen rasch anzugehen», sagt Stefan Dörig, Head of Regulatory and Public Affairs bei Tiko Energy Solutions. Heute sind Batteriespeicher beispielsweise gegenüber Pumpspeicherkraftwerken benachteiligt, weil letztere für die Pumpenergie keine Netznutzungsgebühren bezahlen müssen. Im Rahmen der Revision des Energie- und des Stromversorgungsgesetzes («Mantelerlass») wurde diese Ungleichbehandlung teilweise beseitigt, doch die Umsetzung der Bestimmungen ist noch unklar. Grundsätzlich ist die schweizweite Umsetzung innovativer Lösungen wie dem bidirektionalen Laden wegen der Struktur des nationalen Stromsystems mit über 600 Netzbetreibern eine grosse Herausforderung.