Wer kennt es nicht, das mühsame Zurückbiegen von verbogenen Brillengestellen. Besteht das Gestell allerdings aus einer Formgedächtnislegierung, muss der Brillenträger oder die Brillenträgerin die verbogene Brille nur in warmes Wasser legen – und schon springt sie in ihre alte Form zurück. Lässt sich diese Materialeigenschaft auch auf Bauwerke übertragen?
Bild: Ali Jafarabadi
Für Brillengestelle werden Legierungen aus Nickel und Titan verwendet. Diese sind zwar hoch elastisch, ihre Formanpassung erfolgt aber bereits bei Körpertemperatur, was für Bauwerke zu tief ist: Denn bereits Sonneneinstrahlung würde ausreichen, eine Formänderung auszulösen. Nickel-Titan-Legierungen sind zudem teuer. Interessant sind daher Produkte auf Eisenbasis, also Armierungseisen mit Formgedächtniseigenschaften. Herkömmliche Eisenlegierungen müssen für den Gedächtniseffekt auf über 400 Grad Celsius erhitzt werden, was für Beton schädlich ist. Christian Leinenbach, Head of the Advanced Processing and Additive Manufacturing of Metals an der Empa in Dübendorf, hat eine neuartige Legierung auf der Basis von Eisen, Mangan und Silizium entwickelt, die bereits zwischen 100 und 200 Grad Celsius den Gedächtniseffekt entfaltet. Die Temperatur ist ideal für Bauwerke aus Beton, da sie selbst bei Sonnenschein nicht erreicht wird, aber doch nicht so hoch ist, dass der Beton Schaden nimmt.
Armierungseisen aus der neuen Legierung erlauben, Brücken vorzuspannen: Die Eisenstäbe werden im Zustand, der nicht ihrem Gedächtnis und somit nicht dem Idealzustand entspricht, in der Brücke verbaut. Werden die Stäbe mit Strom oder einem Heizstrahler erhitzt, springen sie in ihre bevorzugte Form zurück. Die Brücke hebt sich damit leicht und wird dann stabilisiert – oder vorgespannt. Das aufwendige mechanische Vorspannen entfällt.
Noch bessere Ergebnisse werden erzielt, wenn die Armierungseisen aus dem neuartigen Formgedächtnisstahl gedruckt werden: Der Prozess kombiniert den schichtweisen Aufbau, den 3D-Druck, mit einer vierten Dimension, der Gedächtniseigenschaft. Das Zurückspringen in den Lieblings- oder Idealzustand wird durch Erwärmen ausgelöst – Druck in vier Dimensionen oder 4D-Druck.
Das volle Potenzial des Vorgehens wird für Bauwerke erreicht, wenn Gitterstrukturen aus Formgedächtnisstahl gedruckt werden. 4D-Druck erlaubt einmalige Kombinationen aus komplexen Geometrien und Formänderung. Oder wie Ali Jafarabadi, Doktorand an der Empa, sagt: «Der 4D-Druck lässt Träume wahr werden.» Irene Ferretto, Doktorandin im Team von Christian Leinenbach und massgeblich an der Entwicklung beteiligt, zeigt stolz ein kleines Muster eines Gitters. Gelingt die Skalierung, können solche 4D-gedruckte Gitter eingesetzt werden, um beispielsweise Bauwerke gegen Erdbeben zu sichern: Das Gitter absorbiert die Schockwellen und kann durch Wärmeeinwirkung wieder in den Originalzustand zurückgesetzt werden. Und das nicht nur einmal, sondern immer wieder. Irene Ferretto denkt bereits einen Schritt weiter und forscht daran, die mechanischen Eigenschaften innerhalb des Gitters unterschiedlich auszugestalten. Stellen mit hoher Flexibilität sollen sich dereinst mit Stellen mit maximaler Stabilität abwechseln – und alles soll in einem Schritt mit Gedächtnislegierungen gedruckt werden. Bei solch visionären Projekten sind Rückschläge nicht zu vermeiden. Irene Ferretto weiss, wie sie damit umgehen muss: «Es macht keinen Sinn, vor Fehlern Angst zu haben. Wichtig ist, aus den Fehlern zu lernen und die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen.»
Umfassende und weiterführende Informationen zum Thema finden sich im Beitrag 4D-Druck.