Mikrobiom

Expert:innen: Alexandre Persat (EPFL), Tomas de Wouters (PharmaBiome)

Es ist erwiesen, dass das Mikrobiom eine wichtige Rolle bei einer Vielzahl von chronischen Entzündungen und Stoffwechselkrankheiten spielt. Schafft es die Forschung, diese Zusammenhänge besser zu verstehen, wird das Mikrobiom zu einem vielversprechenden Ziel für Therapie und Prävention. Die Nutzung des Mikrobioms betrifft die Lebensmittel- und Pharmaindustrie, die beide in der Schweiz traditionell stark verankert sind. Der Schulterschluss zwischen den Industrieklassen bietet die Chance für neue Geschäftsmodelle.

Bild: CDC, Unsplash

Definition

Das Mikrobiom beschreibt die Gesamtheit aller Mikroorganismen, die einen spezifischen Lebensraum besiedeln. Das menschliche Mikrobiom besiedelt Organe, die der Umwelt ausgesetzt sind: die Haut, die Lungen, den Mund und den Verdauungstrakt. Der Dickdarm weist die höchste Dichte an Mikroorganismen im menschlichen Körper auf und ist zunehmend Ziel von Forschungsaktivitäten. Der Begriff Mikrobiom wird auch für andere Ökosysteme wie Ozeane, Seen oder Gebäude verwendet.

Heutige und zukünftige Anwendungen

In den letzten zehn Jahren wurde erkannt, dass das Mikrobiom bei Stoffwechselkrankheiten und chronischen Entzündungen, aber auch bei Erkrankungen des Immun- und Nervensystems eine wichtige Rolle spielt: Es agiert als Mittler zwischen Darm und dem restlichen Körper. Ein Meilenstein war die erste erfolgreiche Mikrobiomtherapie, eine Transplantation des gesamten Mikrobioms eines gesunden Spenders unter Verwendung von Fäkalien, zur Behandlung von wiederkehrenden Darminfektionen mit dem Bakterium Clostridium difficile – «Bugs as Drugs» sozusagen. Auf der Grundlage von Studien an Mäusen wird die Fäkaltransplantation auch als Therapie für weitere gastrointestinale sowie für neurologische Erkrankungen wie Colitis Ulcerosa, Multiple Sklerose und Parkinson untersucht. Sogenannte Stool Banks zentralisieren das Screening von Spender:innen und die Aufbereitung des Fäkalmaterials, um den Zugang zum ungewöhnlichen Rohstoff zu verbessern. Verbindliche Richtlinien zum Vorgehen sind für Sicherheit und Qualität essenziell. Unterdessen sind erste Firmen entstanden, die Darmfloraanalysen anbieten und Probiotika verkaufen. Eine zweifelhafte Kombination, da der Wissensstand für ein solches Vorgehen nicht ausreichend ist.

Die Verwendung von Fäkalmaterial ist für Patient:innen nicht sehr ansprechend. Forscher:innen suchen deshalb neue Darreichungsformen wie Einläufe und Pillen, die 2022 zugelassen wurden oder kurz vor der Zulassung stehen. Die Abhängigkeit von Donoren erschwert allerdings die Skalierung. Zukünftige Bemühungen gehen deshalb momentan dahin, Darmbakterien aus Kultur und nicht aus Stuhl für die Therapie zu verwenden. Einerseits wäre das Produkt dann ein definiertes Arzneimittel mit immer gleicher Zusammensetzung und Wirksamkeit. Und andererseits würde das Vorgehen skalierbar und das Risiko von Infektionen – verursacht durch unerwünschte Bakterien im Transplantat – reduziert.

Rund um das Mikrobiom zeichnen sich zwei weitere Trends ab: «Drugs for Bugs», also die Entwicklung von Wirkstoffen, die das menschliche Mikrobiom fördern oder gezielt verändern, und «Drugs from Bugs» – der Erkenntnisgewinn aus der Mikrobiomforschung, der für die Isolation von Wirkstoffen aus dem Mikrobiom und deren Verwendung als Arzneimittel genutzt wird.

Chancen und Herausforderungen

Mikroorganismen haben eine lange Tradition im Bereich der Nahrungsergänzung, wo probiotische Bakterien präventiv eingesetzt werden. Der wichtigste Umbruch war die Ausweitung auf medizinische Anwendungen. Der Ansatz baut auf die Lebensmittel- und Pharmaindustrie, die beide in der Schweiz traditionell stark verankert sind, grosses Interesse an der Mikrobiomforschung zeigen und Kollaborationen eingehen. Der Schulterschluss zwischen den Industrieklassen bietet die Chance für neue Geschäftsmodelle. Dazu kommt, dass eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung auf einen gesunden Lebensstil achtet und bereit ist, für die Gesundheit Geld auszugeben. Schon präventive Lifestyle-Produkte führen dazu, dass sich Individuen über den Zusammenhang zwischen Ernährung und Gesundheit vermehrt Gedanken machen – mit positiven Auswirkungen auf das Gesundheitssystem. Obwohl die Versuchung gross ist, gilt für Normalbürger:innen: Hände weg von einer selbst durchgeführten Fäkaltransplantation, die bei unsachgemässer Durchführung ein hohes Risiko für Infektionen birgt. Aufklärung tut hier not. Mittel- bis langfristig bieten Mikrobiomtherapien die Chance auf personalisierte präventive und therapeutische Produkte.

Um diese Versprechen einzulösen, sind Fortschritte in der Forschung unabdingbar. Dazu gehört die Entwicklung einer alternativen Darreichungsform, etwa als Pille, die Forschende wegen der sehr unterschiedlichen Bedingungen im Verdauungstrakt vor Herausforderungen stellt. Zudem muss nicht nur ein fundamentales Verständnis für die komplexen Zusammenhänge aufgebaut werden, sondern auch der experimentelle Aufbau ist zu hinterfragen. Anstatt Experimente immer nach dem gleichen Schema durchzuführen, sollte das Potenzial von neuen Technologien wie Analyse von Big Data genutzt werden – eine Chance für den Forschungsstandort Schweiz.

Informationen über das persönliche Mikrobiom stehen auf derselben Stufe wie andere Gesundheitsdaten. Sie lassen Rückschlüsse zu, wo «Inhaber:innen» waren und wie sie sich – zumindest in Bezug auf ihre Ernährung – verhalten. Das wirft ethische Fragen zum Schutz der Privatsphäre und zur Kontrolle dieser sensiblen Daten auf.

Bewegen sich die Produkte im Lifestyle-Segment, stehen der Kommerzialisierung keine regulatorischen Hürden im Weg. Werden aber genetisch veränderte Bakterien eingesetzt oder mit den Produkten medizinische Versprechen mitverkauft, dann greifen die Regulatorien. Es kann für die Schweiz, aber auch für die ganze EU, zu einem Nachteil werden, dass die Food and Drug Administration (FDA) in den USA deutlich agiler agiert als die europäischen Zulassungsbehörden.

Förderung

Der Schweizerische Nationalfonds unterstützt mit dem Nationalen Forschungsschwerpunkt Microbiomes einen ganzheitlichen Ansatz, der Grundlagenforschung mit klinischen Anwendungen kombiniert. Sowohl die Gebert Rüf Stiftung als auch die Avina Stiftung, Fondation Botnar und Seerave Foundation zählen zu den privaten Organisationen, welche die Mikrobiomforschung bereits in einer frühen Phase unterstützt haben. Die Schweiz könnte davon profitieren, ihre Aktivitäten koordiniert und technologisch disruptiv auszurichten, sodass die grossen und bedeutenden Akteure ihre Forschungskollaborationen im In- und nicht im Ausland suchen. Das Potenzial der Schweiz, eine führende Rolle zu übernehmen, ist auch dank der industriellen Ausrichtung vorhanden.

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