Bioinspiration und Biointegration

Expert:innen: Mark Tibbitt (ETH Zürich)

Bioinspiration und Biointegration machen sich die Natur zunutze und kopieren deren wichtigste Funktionen, um neuartige Materialien, Strukturen und Prozesse zu entwickeln, in denen vom Menschen hergestellte lebende Systeme mit klassischen kombiniert werden. Die zukünftigen Anwendungsmöglichkeiten sind vielfältig, reichen von der Architektur über die Industrie bis in die Medizin und bieten Wirtschaft wie Gesellschaft grosse Chancen. Schweizer Forschende an Hochschulen und in Firmen sind hervorragend aufgestellt, um die anstehenden technischen Herausforderungen in diesem interdisziplinären Feld zu lösen.

Definition

Die Natur als Inspirationsquelle und Leitfaden für den Aufbau neuartiger Systeme: Bioinspiration entwickelt fortschrittliche Materialien, Geräte und Strukturen nach dem Vorbild der Natur, welche sich über Millionen von Jahren optimiert hat. Bioinspiration charakterisiert diese natürlichen Vorbilder, abstrahiert die wichtigsten Funktionen und ahmt sie nach. Im Gegensatz dazu zielt Biomimikry darauf ab, die beobachteten Merkmale genau nachzubilden.

Die Biointegration beschreibt die Integration lebender Systeme in herkömmliche Materialien oder Prozesse, wobei die lebenden Systeme auch menschgemacht und der Natur nachempfunden sein können. Es entstehen biohybride Systeme, die das Potenzial haben, unterschiedliche Längenskalen zu kombinieren und zu überbrücken: die Nanometerskala der Biologie auf der einen Seite mit der Strukturskala von Geräten am anderen Ende der Skala.

Bioinspiration und Biointegration spielen in der Biotechnologie, in der chemisch-pharmazeutischen Industrie und bei der Materialentwicklung eine bedeutende Rolle, aber genauso in der Architektur, Diagnostik, in industriellen Prozessen und bei der Kreislaufwirtschaft.

Heutige und zukünftige Anwendungen

Bioinspiration wird seit Jahren intensiv genutzt, wie nachfolgende Beispiele zeigen. Insekten und Pflanzen, deren Oberflächen Wasser, Proteine und andere Substanzen abstossen, dienten und dienen noch immer als Inspiration für die Entwicklung fortschrittlicher Materialien, auf deren Oberfläche sich keine Organismen ansiedeln (siehe Beitrag antimikrobielle Oberflächen) oder die wasserabweisend sind. Inspiriert durch die selbstorganisierte Kompartimentierung biologischer Systeme, also die Unterteilung in Teilbereiche mit verschiedenen Bedingungen, wurden selbstorganisierende Monoschichten entwickelt, welche für die Untersuchung von Benetzung, Haftung und Schmierung eingesetzt werden. Seesterne dienten als Vorbild für pneumatische und weiche Greifarme von kollaborativen Robotern.

Der Einsatz von Biointegration ist weniger verbreitet und findet meist erst im Labormassstab statt. Am fortgeschrittensten sind biologisch motivierte Produktionsverfahren wie die Produktion von Antikörpern mit Mikroorganismen (siehe Beitrag synthetische Biologie) und die Krebstherapie mit modifizierten Immunzellen. Auch bei der Herstellung von Biotreibstoffen kommt Biointegration zum Einsatz, spielen Mikroorganismen dabei doch eine zentrale Rolle.

Die zukünftigen Anwendungsmöglichkeiten sind vielfältig. Vorstellbar sind gentechnisch veränderte Bakterien, die industrielle Prozesse mit einem geringeren Energieverbrauch durchführen als heute. Mikroorganismen könnten in der Umwelt und Medizin als Biosensoren eingesetzt werden und beispielsweise den CO2-Gehalt oder andere Messgrössen registrieren und anzeigen. In der Architektur könnten lebende Systeme in Gebäudestrukturen integriert werden und diese in die Lage versetzen, die Umwelt zu fühlen und darauf zu reagieren. Allgemein können künstlich hergestellte, lebende Systeme die Funktion von etwas übernehmen, das früher chemisch war; dies ist nicht nur für die Medizin interessant, sondern auch für nachhaltige Produkte und Prozesse.

Chancen und Herausforderungen

Die zukünftigen Anwendungen bieten grosse Chancen für Wirtschaft und Gesellschaft: Die industriellen Prozesse werden modularer, können einfacher an die Bedürfnisse angepasst werden, versprechen eine bessere Energieeffizienz, vereinfachtes Rückführen der Materialien in die natürlichen Kreisläufe und insgesamt eine erhöhte Nachhaltigkeit bei den Produkten. Vor der Vermarktung steht noch viel Forschungsarbeit an, für die der interdisziplinäre Standort Schweiz hervorragend aufgestellt ist.

Damit die geschilderten Chancen Realität werden, sind etliche technische Hürden zu überkommen. Lebende Systeme entwickeln sich weiter und passen sich an die Umgebung an; es wird eine grosse Herausforderung sein, stabile und reproduzierbare Prozesse zu erreichen. Zudem können lebende Systeme kontaminiert werden und sie brauchen viel Platz und Zeit, was die Prozesse verteuern dürfte. Schwierig zu realisieren sind auch die Schnittstellen zwischen lebenden und klassischen Systemen, zum Beispiel bei Gebäuden. Generell gilt, dass die Möglichkeiten, die lebende Systeme schaffen, auch Herausforderungen sind.

Der Einsatz gemischter Systeme in der Natur und im Körper muss mit Bedacht erfolgen, da lebende Systeme an Orten angesiedelt werden, an denen sie natürlich nicht vorkommen. Dies kann unerwartete Auswirkungen haben und erfordert eine strikte Kontrolle, vor allem in der Frühphase. Zudem stellen sich ethische Fragen, wenn ein synthetisches System gebaut wird, das voll funktionsfähig ist und Neuronen imitiert. Der Einsatz von genetisch veränderten Organismen ist in Europa stark reguliert, was negative Auswüchse verhindert, aber auch die Möglichkeiten einschränkt.

Förderung

Grosse Initiativen wie ALIVE an der ETH Zürich und der Nationale Forschungsschwerpunkt Bioinspired Materials beziehen akademische und industrielle Akteur:innen in der ganzen Schweiz mit ein und sind gut positioniert, die anstehenden technischen Herausforderungen anzupacken. Es ist wichtig, dass die Thematik auf den Radar der politischen Entscheidungsträger:innen gelangt, selbst wenn es für politische Aktionen noch zu früh ist.

Weiterführende Literatur

Weitere Technologie aus den Life Sciences

 
Alternative Proteinquellen

Alternative Proteinquellen

Technologien im Fokus Life Sciences
 
Biokatalyse

Biokatalyse

Technologien im Fokus Life Sciences
 
Massenkultivierung von Stammzellen

Massenkultivierung von Stammzellen

Technologien im Fokus Life Sciences
 
Mikrobiom

Mikrobiom

Technologien im Fokus Life Sciences
 
Personalisierte Ernährung

Personalisierte Ernährung

Technologien im Fokus Life Sciences
 
Point-of-Care-Testing

Point-of-Care-Testing

Technologien im Fokus Life Sciences
 
Roboterchirurgie

Roboterchirurgie

Technologien im Fokus Life Sciences
 
Synthetische Biologie

Synthetische Biologie

Technologien im Fokus Life Sciences