Personalisierte Ernährung

Diane E. Clayton (Clayton Consulting), Philipp Gut (Nestlé Research)

Personalisierte Ernährung zielt darauf ab, mithilfe modernster, analytischer Verfahren die Wirkungen von Nährstoffen, Lebensmitteln und Diäten bei bestimmten Gruppen oder gar Individuen zu erfassen und massgeschneiderte Produkte oder Ernährungsempfehlungen anzubieten. In Zukunft werden KI-Anwendungen und digitale Zwillinge die Entwicklung personalisierter Diätpläne und den gezielten Einsatz von Nahrungsergänzungsmitteln entscheidend voranbringen. Die Schweiz hat dank ihrem starken Netzwerk im Bereich biomedizinische Forschung und Nahrungsmittel produzierende Industrie gute Chancen, in diesem zukunftsträchtigen Umfeld eine führende Rolle zu spielen.

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*Aktualisierte Version des Beitrags von 2023. 

Definition

Ernährung ist personalisiert, wenn sie an das Individuum angepasst ist. Die Personalisierung erfolgt unter Berücksichtigung des genetischen und physiologischen Hintergrunds sowie der Umwelteinwirkungen auf das Individuum. Die Analyse der Erbsubstanz, des Mikrobioms, der klinischen und biochemischen Marker, des Stoffwechsels und der körperlichen Aktivität liefern messbare Richtwerte für eine individuelle, gesunde Ernährung. Damit sollen Zivilisationskrankheiten, Unzulänglichkeiten in der Nährstoffversorgung und Mangelerscheinungen vorgebeugt werden. Personalisierte Ernährung verfolgt verschiedenen Ansätze:  von der gezielten Ernährung, die besondere Bedürfnisse oder Anforderungen in verschiedenen Lebensphasen berücksichtigt und aus statistischen Daten zur Gesamtbevölkerung abgeleitet wird, bis hin zur Präzisionsnahrung, die hoch individuelle Lösungen auf der Basis von personenspezifischen Daten bietet. Der Begriff der personalisierten Ernährung umfasst nicht nur die Versorgung mit den richtigen Nahrungsmitteln, sondern auch Dienstleistungen und Empfehlungen für einen gesunden Lebensstil. 

Heutige Anwendungen und Chancen

Produkte und Dienstleistungen im Feld der personalisierten Ernährung können grob drei verschiedenen Geschäftsmodellen zugeordnet werden. Erstens werden Testkits und Wearables angeboten. Testkits ermöglichen ernährungsspezifische Biomarker wie Vitamine, Aminosäuren, Fettsäuren und Spurenelemente in Blut-, Speichel- oder Urinproben der Kund:innen zu messen. Mit DNA-Tests werden relevante Gene analysiert. Basierend auf den Resultaten arbeiten biomedizinische Fachleute und Ernährungsspezialist:innen einen individuellen Ernährungsplan aus, oft verbunden mit Empfehlungen für ein spezifisches Verhaltenstraining. Ein gängiges Beispiel ist die Vorhersage des Bedarfs an Vitamin B12, welche auf der Analyse von wenigen Genen beruht, und eine gute Erfolgsquote aufweist. 

Wearables und Implantate sind Sensorgeräte auf oder im Körper, die beispielsweise eine kontinuierliche Echtzeitüberwachung des Blutzuckerspiegels (Continuous Glucose Monitoring, CGM) bei Patient:innen mit Diabetes ermöglichen. Vermehrt werden solche Geräte auch für Personen ohne Diabetes konzipiert, da der Blutzuckerspiegel ein wichtiger Indikator für den ernährungs- und lebensstilbedingten Gesundheitsverlauf ist. 

Das zweite Geschäftsmodell umfasst verschiedene Apps auf dem Markt. Darin geben die Nutzer:innen regelmässig ihre gesundheits- und ernährungsrelevanten Daten ein und erhalten entsprechende Prognosen und Empfehlungen für eine gesunde Lebensführung. Ähnliche Dienstleistungen bieten auch Ernährungsberater:innen entweder im Rahmen von Konsultationen oder über Webseiten an. Und schliesslich das dritte Geschäftsmodell bezieht sich auf die Herstellung und den Verkauf von spezifischen Produkten der personalisierten Ernährung, darunter Nahrungsergänzungsmittel. 

Die Technologie bietet den Nutzer:innen die Chance, ihren Lebensstil kritisch zu überprüfen und ermöglicht ein gesundheitsförderndes Verhalten. Sie begünstigt die Prävention lebensstilbedingter chronischer Erkrankungen und kann zur Senkung der Gesundheitskosten beitragen. Digitale Plattformen ermöglichen mehr Menschen Zugang zu qualitativ hochwertiger Ernährungsberatung. 

In der Schweiz treiben sowohl die Hochschulen als auch die Industrie die Entwicklung voran. Während die Hochschulforschung die wissenschaftlichen Grundlagen bereitstellt, entwickeln vor allem KMU neue Angebote. Dazu gehören bessere oder weniger invasive Testkits. So konnten in den letzten Jahren grosse Fortschritte bei der Analyse von Speichel-, Urin- oder gar Atemproben erzielt werden. Um die Zusammenarbeit aller Akteur:innen zu verstärken, vernetzt die Initiative Swiss Food & Nutrition Valley auf seiner Impact-Plattform Precision Nutrition über 80 Unternehmen, Forschungsgruppen, Behörden und Investor:innen. 

Herausforderungen

Die Entwicklung von personalisierten Produkten ist teuer, weil die Qualität der Empfehlungen und Prognosen von der Integration möglichst vieler Daten aus unterschiedlichen Verfahren abhängt. Bei neuen Geschäftsmodellen muss berücksichtigt werden, dass Testverfahren, zum Beispiel durch Testkits, zusätzliche Kosten für die Konsument:innen mit sich bringen. Darüber hinaus fehlt in vielen Fällen noch der wissenschaftliche Nachweis, dass sich die höheren Kosten auch tatsächlich in einer besseren Gesundheit auszahlen. Der vermehrte Einbezug von medizinischen Fachkräften und Expert:innen aus dem Gesundheitswesen sowie deren Vernetzung mit Akteur:innen im Bereich der personalisierten Ernährung könnte das Angebot an Produkten und Dienstleistungen enorm verbessern. 

Eine weitere Herausforderung ist die Optimierung der Analysen. So ist zum Beispiel der Nutzen von Stuhlanalysen zur Erstellung von Darmmikrobiota-Profilen fraglich. Allerdings sind in jüngster Zeit bei der Darmgesundheit einige vielversprechende Ergebnisse mit der Atem- und Speichelanalyse erzielt und neue Analysemethoden der Dünndarm-Mikrobiota entwickelt worden. Für den Erfolg der personalisierten Ernährung ist eine hohe Qualität der Analysen und der daraus gezogenen Schlüsse entscheidend, weil die Technologie stark vom Vertrauen und von der Akzeptanz der Kund:innen abhängig ist. 

Eine weitere Hürde sind Fragen des Datenschutzes. Personalisierte Ernährung ist per se abhängig von der Erhebung persönlicher Daten. Griffige Datenschutzgesetze sind deshalb notwendig, ohne dabei den Zugang zu jenen Daten zu erschweren, die für zuverlässige Empfehlungen erforderlich sind. 

Fokus Industrie

Personalisierte Ernährung hat ein grosses Potenzial für Betriebe der Nahrungsmittelindustrie. Sie ermöglicht Perspektiven in den Bereichen Verkauf, Marketing und Dienstleistung. Mit einer Personalisierung der Angebote können Unternehmen den Kontakt zu bestehenden Kund:innen festigen und neue dazugewinnen. Darüber hinaus können sie wertvolle Daten über Konsumtrends in der Ernährung gewinnen. 

Für die Entwicklung und den Betrieb solcher Tests benötigen Mitarbeitende fundierte Kenntnisse in Biomedizin und Ernährungswissenschaften. Und für die Entwicklung integrierter Lösungen braucht es ein breites Wissen in den Bereichen Ernährungsmedizin und Mikrobiologie. Essenziell sind aber auch Kenntnisse in Sozialwissenschaften, weil das menschliche Verhalten zentral ist für eine erfolgreiche Nutzung von Produkten aus dem Bereich der personalisierten Ernährung. Die Umsetzung digitaler Lösungen erfordert Kenntnisse in Datenwissenschaften und Computertechnik kombiniert mit Expertise in Ernährungswissenschaften und digitalen Gesundheitsanwendungen. 

Die Ausbildung in der Schweiz ist gut auf diese Anforderungen vorbereitet. Angeführt von den beiden ETH werden genügend hoch qualifizierte Ernährungsspezialist:innen und Datenwissenschaftler:innen ausgebildet. Die Schweiz verfügt auch über hervorragende Fachleute im Bereich der Verhaltenswissenschaften. 

Internationale Perspektive

Bei der Forschung und Entwicklung von Analyse- und Testverfahren sowie von Wearables ist die Schweiz gut positioniert. Der Hauptmarkt für personalisierte Ernährungslösungen befindet sich jedoch in den USA, gefolgt vom asiatisch-pazifischen Wirtschaftsraum und China. Bei der Integration aller Teiltechnologien sowie in der Vermarktung und Kommerzialisierung eines kompletten Angebots sind diese Regionen sowie auch Grossbritannien und die Niederlande einen Schritt voraus. 

Zukünftige Anwendungen

Die künftige Entwicklung wird von KI-Lösungen geprägt sein, welche die Resultate der Laboranalysen, die Gesundheitsdaten und die Lebensstilfaktoren integrieren. Dies könnte einerseits die Qualität und den gesundheitlichen Nutzen der damit produzierten Empfehlungen steigern und zugleich die Kosten der Produkte senken. Bei lebensstilbedingten Krankheiten wie Diabetes Typ 2 können dadurch bessere Prognosen gemacht werden. Zudem ist davon auszugehen, dass KI-generierte Ernährungsmodelle bei Therapieentscheiden oder auch bei der Prognose von krankheitsbedingten Komplikationen unterstützen werden. Auch potenzielle Krankheitsrisiken bei gesunden Personen lassen sich so besser abschätzen. Darüber hinaus geben KI-Anwendungen den Nutzer:innen neue Instrumente für ihr Self-Tracking in die Hand. Bei der Analyse von Lebensmitteln verbessern KI-unterstützte Methoden die Suche nach bioaktiven Substanzen. 

Die personalisierte Ernährung kann auf das Leben der einzelnen Menschen, aber auch auf das gesamte Ernährungs- und Gesundheitssystem eines Landes einen grossen positiven Impact haben. Da die Schweiz über eine hohe Forschungs- und Industriekompetenz im Bereich der industrialisierten Ernährung verfügt, ist es naheliegend, dass sie künftig auch bei der personalisierten Ernährung eine führende Rolle übernehmen wird und den Wissenstransfer in weniger wohlhabende Länder sicherstellt. Um darin Erfolg zu haben, sind jedoch ein weiterer wissenschaftlicher Fortschritt, ein systemischer Ansatz und ein hohes Mass an Digitalisierung unerlässlich.

Weiterführende Informationen

G Vergères, M Bochud, C Jotterand Chaparro, D Moretti, G Pestoni, N Probst-Hensch, S Rezzi, S Rohrmann, WM Brück. (2024) The future backbone of nutritional science: integrating public health priorities with system-oriented precision nutrition.  

D Di Filippo, FN Sunstrum, JU Khan, AW Welsh. (2023) Non-invasive glucose sensing technologies and products: A comprehensive review for researchers and clinicians.  

Y Chu, S Li, J Tang, H Wu. (2023) The potential of the Medical Digital Twin in diabetes management: a review

B Renner, AE Buyken, K Gedrich, S Lorkowski, B Watzl, J Linseisen, H Daniel, J Conrad, PG Ferraio, C Holzapfel, M Leitzmann, M Richter, MC Simon, C Sina, J Wirsam. (2023) Perspective: A conceptual framework for adaptive personalized nutrition advice systems (APNASs).  

S Berciano, J Figueiredo, TD Brisbois, S Alford, K Koecher, S Eckhouse, R Ciati, M Kussmann, JM Ordovas, K Stebbins, JB Blumberg. (2022) Precision nutrition: Maintaining scientific integrity while realizing market potential.  

D Zeevi, T Korem, N Zmora, D Israeli, D Rothschild, A Weinberger, O Ben-Yacov, D Lador, T Avnit-Sagi, M Lotan-Pompan, J Suez, JA Mahdi, E Matot, G Malka, N Kosower, M Rein, G Zilberman-Schapira, L Dohnalová, M Pevsner-Fischer, R Bikovsky, Z Halpern, E Elinav, E Segal. (2015) Personalized Nutrition by prediction of glycemic responses.  

MyFoodRepo. Ernährungstracking leicht gemacht.  

Swiss Food & Nutrition Valley. Pioneering future-proof food systems. Together.  

Keywords

Precision Nutrition, Nutrigenomics, Nutrigenetics, Metabolomics, Microbiome, AI Nutrition Coach, Digital Nutrition, Epigenetics  

Akademische Akteur:innen

Clara-Maria Barth (Universität Zürich), Nicolas Henchoz (EPFL), Marcel Salathé (EPFL), Guy Vergères (Agroscope)  

Firmen

Abbott, AlpinaSana, Avea, Ayun, Biolytica, Biostarks, Genknowme, MavenHealth, Nestlé