Expert:innen: Nathalie Casas (Empa), Alissa Ganter (ETH Zürich)
Die gesetzlich verankerten Netto-Null-Ziele der Schweiz bis 2050 sind nur erreichbar, wenn das volle Potenzial der erneuerbaren Energien ausgeschöpft wird. Dabei kann Wasserstoff als Energieträger, Speicher, Rohstoff, Zwischenprodukt und Brennstoff eine entscheidende Rolle spielen. Innovative Technologien zur Herstellung und Speicherung sowie für den Transport und den Einsatz von nachhaltig produziertem Wasserstoff eröffnen ein grosses Feld von verschiedenen Anwendungen in einer zunehmend dekarbonisierten Wertschöpfungskette. Nachhaltig ist die Wasserstoffproduktion jedoch nur, wenn der Strom für die Herstellung aus erneuerbarer Energie stammt.
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Wasserstoff ist bei Umgebungstemperaturen ein farb- und geruchloses Gas. Er ist 14-mal leichter als Luft und kann gasförmig oder verflüssigt in Spezialbehältern oder in Salzkavernen im Untergrund gelagert werden. Wasserstoff zeichnet sich durch die höchste gewichtsbezogene Energiedichte aller sekundärer Energieträger aus. Bei der Verbrennung von Wasserstoff werden hohe Energiemengen frei, die in Brennstoffzellen rückverstromt oder in Verbrennungsanlagen als Wärme für Hochtemperaturprozesse verwendet werden können. Wasserstoff wird mit folgenden Verfahren hergestellt: Elektrolyse, Pyrolyse und Dampfreforming. Bei der Elektrolyse wird Wasser mit elektrischer Energie in Wasserstoff und Sauerstoff aufgespalten. Wird dazu erneuerbare Elektrizität verwendet, spricht man von grünem Wasserstoff. Bei der Pyrolyse wird Methan unter Ausschluss von Sauerstoff thermisch in Wasserstoff und festen Kohlenstoff gecrackt. Die Nutzung von erneuerbarem Methan führt zu negativen CO2-Emissionen. Der weitaus grösste Anteil des heute genutzten Wasserstoffes wird mittels Dampfreformierung hergestellt: Kohlenwasserstoffe aus fossilen Quellen wie Erdgas oder erneuerbaren Quellen wie Biogas werden dabei in einer thermischen Reaktion unter Zufuhr von Wasserdampf in Wasserstoff und Kohlendioxid überführt. Wird das dabei produzierte Kohlendioxid anschliessend mittels Carbon-Capture-and-Storage-Technologien (siehe Negativemissionstechnologien) gespeichert, kann das Verfahren emissionsarm umgesetzt werden.
In der Industrie wird Wasserstoff schon lange im grossen Umfang in der Herstellung von Kunstdüngern und Sprengstoffen sowie in der Lebensmittelindustrie verwendet. Dabei fallen allerdings hohe CO2-Emissionen an. Die Umstellung auf grünen Wasserstoff eröffnet neue Möglichkeiten für die Dekarbonisierung an verschiedenen Stellen in der Wertschöpfungskette. Für die energetische Nutzung kann grüner Wasserstoff via Brennstoffzelle emissionsfrei rückverstromt und als kohlenstoffarmer Kraftstoff für den Schwerlastverkehr genutzt werden. Seit 2020 setzt das Firmenkonsortium Hydrospider in der Schweiz ein Dekarbonisierungskonzept für den Schwerlastverkehr um und betreibt Produktionsanlagen und ein Tankstellennetz für grünen Wasserstoff. Mittlerweile nutzen fast zwei Dutzend namhafte Transport- und Detailhandelsunternehmen eine eigene Wasserstoff-Lastwagenflotte für die Feinverteilung von Waren.
Auf der Schwelle zum Markteintritt sind auch einzelne Synfuels. Dabei werden mithilfe von Wasserstoff synthetische Energieträger wie Methan, Methanol oder synthetische Treibstoffe hergestellt. Dies eröffnet ein vielversprechendes Potenzial für nachhaltige Mobilität in schwer elektrifizierbaren Anwendungen wie dem Langstrecken-Güterverkehr, der Schifffahrt und der Luftfahrt, aber auch für die Nutzung in industriellen Hochtemperaturprozessen oder für die Strombereitstellung im Winterhalbjahr.
Eine stark ausgebaute Produktionskapazität für grünen Wasserstoff in der Schweiz könnte zudem den Zubau von Photovoltaik-Anlagen fördern, weil damit das Überangebot an Solarstrom im Sommer aufgefangen und eine gesteigerte Nachfrage nach erneuerbarer Energie befriedigt werden kann.
Für die Entwicklung neuer Wasserstoff-Technologien arbeiten Industrie und Hochschulforschung eng zusammen, zum Beispiel im reFuel.ch-Konsortium, das robuste Ansätze für die Versorgung der Schweiz mit nachhaltigen Treib- und Brennstoffen sowie Grundchemikalien entwickelt. Insgesamt laufen derzeit in der Schweiz 76 Wasserstoff-Projekte, die hauptsächlich an der Empa, dem PSI, den beiden ETHs und in Forschungsinstituten verschiedener Universitäten und Fachhochschulen angesiedelt sind.
Nachhaltig produzierter Wasserstoff spielt in der gesamten Wertschöpfungskette noch eine (zu) kleine Rolle. Hergestellt wird er praktisch ausschliesslich in Raffinerien mittels Dampfreformierung von Erdgas. Dieser Prozess ist jedoch sehr CO2-intensiv. Kohlenstoff-arme Herstellungsverfahren erbringen derzeit nur etwa ein Prozent der Wasserstoffproduktion. Allgemein sind die für Produktion, Speicherung und Transport von nachhaltigem Wasserstoff benötigten Investitionen sehr hoch. Der Preis für die Herstellung von einem Kilogramm grünem Wasserstoff liegt derzeit – abhängig von den Schwankungen auf dem Energiemarkt – in der Schweiz bei rund sieben Euro pro Kilogramm und ist damit mehr als doppelt so hoch wie der Marktpreis für konventionell hergestellten Wasserstoff.
Mittlerweile sind in der Schweiz vier Anlagen in Betrieb, in denen Wasserstoff mittels Elektrolyse aus erneuerbaren Energien hergestellt wird. Drei davon nutzen Wasserkraft (Schiffenen FR, Gösgen SO und Kubel SG) als Energiequelle, die vierte Anlage (Dietikon ZH) nutzt die Abwärme einer Kehrichtverbrennungsanlage. Da die Elektrolyse viel elektrische Energie benötigt und erneuerbarer Strom in absehbarer Zeit nicht ganzjährig ausreichend zur Verfügung stehen wird, wird Wasserstoff im Grossmassstab künftig aus Regionen importiert werden müssen, in denen Solarenergie günstiger und mit geringerer saisonaler Schwankung hergestellt werden kann, etwa im Sonnengürtel der Erde. Aber auch Transport, Speicherung und Verteilung zu den Anwendungen sind grosse Herausforderungen für die Bereitstellung von nachhaltigem Wasserstoff.
Eine Anbindung der Schweiz an den European Hydrogen Backbone, einem Zusammenschluss von 33 Gasnetzbetreibern zum Aufbau eines europaweiten Wasserstoff-Transportnetzes, sollte deshalb geprüft werden. Darüber hinaus sollte eine Importstrategie mit Ländern aus dem Sonnengürtel der Erde angestrebt werden. Um die Planungssicherheit für investierende Unternehmen zu verbessern, müssen regulatorische und politische Lücken geschlossen und technische Hemmnisse ausgeräumt werden. Wissenschaft und Industrie sollten in enger Zusammenarbeit in weitere Pilot- und Demonstrationsanlagen investieren, um innovative Projekte in allen Bereichen der Wertschöpfungskette zur Marktreife zu bringen.
In Zukunft liegt ein grosses Potenzial in der Herstellung von Produktions-, Transport- und Speicheranlagen für nachhaltigen Wasserstoff und Wasserstoffderivaten. In der Schweiz spielt vor allem der Aufbau von Elektrolysekapazitäten sowie die Skalierung der Technologien für die Produktion von Synfuels und Grundchemikalien als Ausgangsstoffe für weitere Produkte eine Rolle.
Tendenziell ist die Wassersstoffindustrie eine stark automatisierte Branche. Damit spielt der Fachkräftemangel eine eher untergeordnete Rolle. Beteiligte Unternehmen und Hochschulen bieten mittlerweile verschiedene Kurse und Ausbildungsgänge an, die Ingenieur:innen und Planer:innen mit dem nötigen Know-how für die Planung und den Betrieb von Wasserstofftechnologien ausrüsten. Zentral sind dabei Sicherheitsaspekte im Umgang mit Wasserstoff und Kenntnisse für Prozesse in Druckbehältern.
Im internationalen Vergleich ist die Schweiz vor allem mit ihrer Pionierarbeit im Bereich der Mobilität vorangegangen. Beim Einsatz von Wasserstoff als emissionsfreier Energielieferant für Hochtemperaturprozesse sind Länder wie Belgien, Deutschland, die Niederlande oder Schweden wegen ihrer industriellen Ausrichtung und der daraus resultierenden besseren Marktvoraussetzungen für Dekarbonisierungsprojekte weiter. Jedoch arbeiten im Bereich Forschung und Entwicklung von innovativen Projekten und Nischenprodukten zahlreiche hiesige Forschungsgruppen eng mit europäischen Partnern zusammen, zum Beispiel in Horizon-Europe-Projekten sowie in Kooperationen wie dem EU-Projekt MetroHyVe, das die Entwicklung und Standardisierung von Messtechniken im Wasserstoffbereich vorantreibt.
Gemäss der Schweizer Energiestrategie 2050 steigt der Bedarf an Wasserstoff und seinen Folgeprodukten je nach Szenario auf 10 bis 20 Prozent am Endenergieverbrauch. Neben den direkten energetischen Anwendungen für die Mobilität steht die Speicherkapazität von Wasserstoff im Fokus. Dabei würde die im Sommer überschüssig vorhandene Solarenergie in Wasserstoff beziehungsweise in Wasserstoffderivaten gebunden, gelagert und bei Bedarf im Winter wieder zur Verfügung gestellt werden, was einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung des gesamten Stromsystems leisten könnte.
In der Industrie wird nachhaltiger Wasserstoff in Zukunft vermehrt als emissionsfreier Brennstoff für Hochtemperaturprozesswärme verwendet werden. Hochtemperaturprozesswärme ist nach Mobilität und Raumwärme die drittgrösste Verbrauchergruppe. Zudem kann Wasserstoff in der produzierenden Zement-, Stahl-, Glas-, Keramik- und Chemie-Industrie wichtig werden wie auch in der verarbeitenden Industrie oder in Raffinerien ein Ausgangspunkt für die Erzeugung von Grundchemikalien für verschiedene Werkstoffe wie Polymere sein.
Wasserstoff hat als Energieträger und Ausgangsstoff für Chemikalien wegen seiner vorteilhaften Eigenschaften ein riesiges Potenzial für die Dekarbonisierung weiter Bereiche, das noch nicht ausgeschöpft ist. Ob dies gelingt, hängt auch von der Nachfrage- und Preisentwicklung im Energiemarkt und den politischen Rahmenbedingungen ab.
Energyresearch. Hydrogen and fuel cells in Switzerland.
Hydrospider. Hydrospider.
Parlamentarische Gruppe. H2 Power-to-X.
Verein zur Dekarbonisierung der Industrie. Fernziel negative Emissionen.
Hydrogen, Electrolysis, Fuel Cell, Pyrolysis
Christian Bach (Empa), André Bardow (ETH Zürich), Corsin Battaglia (Empa), Nathalie Casas (Empa), Felix Büchi (PSI), Anthony Patt (ETH Zürich), Peter Jansohn (PSI), Andreas Züttel (Empa/EPFL)
Hydrospider, Hyundai, V-Zug