Expert:innen: Jürg Eberhard (Forschungsstiftung Strom und Mobilkommunikation), Christian Grasser (Asut)
Die rasante Entwicklung der Mobilfunkkommunikation bietet neue Chancen für die digitale Transformation. Dazu muss jedoch das volle Potenzial des 5G-Netzes ausgeschöpft werden. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die höchst zuverlässige Kommunikation mit ultrakurzer Signalverzögerung (Ultra-Reliable Low-Latency Communications, URLLC). Dabei handelt es sich um eines von drei Anwendungsprofilen, die die Internationale Fernmeldeunion festgelegt hat und die durch das 5G-Netz unterstützt werden. URLLC kann ein Gamechanger für effizientere Produktionsprozesse sowie für Anwendungen in der Mobilität oder im Gesundheitswesen sein. Regulatorische Hürden und langwierige Bewilligungsverfahren verzögern jedoch den flächendeckenden Ausbau der dafür notwendigen Mobilfunkinfrastruktur.
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Die fünfte Mobilfunkgeneration 5G stellt gegenüber den bisherigen Mobilfunkstandards einen bedeutenden Fortschritt dar. Die Internationale Fernmeldeunion (engl. International Telecommunication Union, ITU) hat dafür Anwendungsprofile für drei Einsatzbereiche festgelegt: die Ultra-Breitbandübertragung (engl. enhanced Mobile Broadband, eMBB) mit hohen und effizienten Datenübertragungsraten, die hochgradige Vernetzung zwischen Maschinen (engl. massive Machine-Type Communications, mMTC), die eine Vernetzung sehr vieler Endgeräte erlaubt (siehe Internet of Things) sowie die Echtzeitkommunikation mit höchster Zuverlässigkeit (engl. Ultra-Reliable Low-Latency Communications, URLLC). Die 5G-Technologie ist die erste Mobilfunkgeneration, die alle drei Profile und zunehmend auch diverse Mischformen unterstützt. URLLC bietet eine leistungsstarke Datenübertragung mit höchsten Anforderungen an die Zuverlässigkeit bei gleichzeitig kürzester Signalverzögerung (Latenz) zwischen Endgeräten und Basisstation. Das Profil ist dementsprechend für zeitkritische Anwendungen vorgesehen, die auf minimale Verzögerungszeiten angewiesen sind und eine robuste, ausfallsichere Mobilkommunikation erfordern.
Für die Latenzeit der ultrazuverlässigen Echtzeitkommunikation hat die ITU eine Zielgrösse von 1 Millisekunde definiert. Bei 4G waren es 10 Millisekunden. In der Praxis liegt sie jedoch deutlich höher. Die Mindestanforderung von URLLC an die Zuverlässigkeit der Datenübertragung wurde auf 99,999 Prozent bei einer Datenübertragungsrate von bis zu 20 Gbit/s festgelegt.
Aktuell läuft ein Pilotversuch im Bereich des teilautonomen Fahrens in Schaffhausen. Dort testet das Swiss Transit Lab einen teilautonomen Bus, der den Bahnhof über vier Stationen mit einem Aussenquartier verbindet. Der Kleinbus fährt ohne Chauffeur:in, kann aber in kritischen Situationen über Mobilfunk von der Zentrale aus ferngesteuert werden. Einen ähnlichen Versuch startet das Swiss Transit Lab gemeinsam mit den SBB und dem Kanton Zürich 2025 im Furttal, wo zuerst vier teilautonome Robotaxis und später auch Robobusse den öffentlichen Verkehr für die Feinverteilung in die Gemeinden rund um Otelfingen ergänzen sollen. Bei dieser Anwendung kommen die vorteilhaften Eigenschaften der URLLC-Konfiguration besonders zur Geltung, weil eine hochverlässliche und zeitnahe Übertragung der Daten zur aktuellen Situation vor Ort für die Fernsteuerung notwendig ist. Dies gilt insbesondere in kritischen Verkehrssituationen.
In der EU, den USA, Kanada, Grossbritannien und China laufen Pilotprojekte zum sogenannten Platooning im Schwerverkehr. Dabei werden mehrere Lastwagen über Mobilfunk zu einem Road-Train verbunden. Dabei steuert das vorderste Fahrzeug die ganze Kolonne und erteilt dazu Steuerbefehle in Echtzeit über 5G an die nachfolgenden Fahrzeuge. So lassen sich dank vermindertem Luftwiderstand der Energieverbrauch reduzieren und zudem Strassen besser auslasten.
URLLC hat ein grosses Potenzial für viele 5G-basierte Nutzungen, die mit früheren Mobilfunkgenerationen nicht möglich waren. In der industriellen Automatisierung etwa können Produktionsketten und Roboter-Montagelinien überwacht und gesteuert werden. Die kabellose Steuerung verleiht Robotereinheiten eine höhere Beweglichkeit und somit ein grösseres Einsatzspektrum. Im Gesundheitswesen kann die ultrazuverlässige Echtzeitkommunikation Ferndiagnosen sowie zukünftig auch Fernoperationen unterstützen, für die ärztliches Personal Eingriffe aus der Ferne mit minimaler Latenz sicher durchführen müssen. Dies könnte den Zugang zu Gesundheitsdiensten in abgelegenen Gebieten verbessern.
Die grösste Herausforderung für eine verlässliche URLLC-Anwendung ist eine möglichst flächendeckende und ausfallsichere Abdeckung der Schweiz mit dem 5G-Netz. Der Ausbau und die Modernisierung mit 5G verlaufen wegen restriktiver Umweltauflagen sowie langwieriger Bewilligungsverfahren langsamer als die technische Entwicklung. Die im Vergleich zu den Nachbarländern sehr strengen vorsorglichen Emissionsbegrenzungen für die Strahlenbelastung (Anlagegrenzwerte) schränken die Leistung der Sendeanlagen ein. Dies bedeutet einerseits weniger Kapazität pro Sendestandort und andererseits eine geringere Flächenversorgung, was durch zusätzliche Sendestandorte kompensiert werden muss. Dies erfordert im internationalen Vergleich höhere Investitionen.
Die Mobilfunkversorgung ist ein Shared Medium, das heisst, alle Kund:innen teilen sich die zur Verfügung stehende Kapazität und Bandbreite einer Sendeanlage. Dies gilt im Grundsatz auch für 5G. Deshalb kann bei hoher Nachfrage nach Datenübertragung die maximalen Datenrate nicht mehr zur Verfügung stehen. 5G bietet jedoch die Möglichkeit, Datenströme durch die Schaffung virtueller Netze zu entflechten, dem sogenannten Network Slicing. Damit kann für sicherheitsrelevante Anforderungen zum Beispiel der Blaulichtorganisationen (Polizei, Sanität, Feuerwehr) ein separates Netz zur Verfügung gestellt werden, das die erhöhten Anforderungen an garantierte Bandbreite, Latenz oder Sicherheit auch bei hoher allgemeiner Nachfrage erfüllt.
Der Markthochlauf der ultrazuverlässigen Echtzeitkommunikation in der Industrie steht noch bevor. Profitieren könnten Betriebe, die eine konsequente Digitalisierung anstreben. Weil ein weltweit normierter Standard ist, kann lokal hergestellte und vernetzte Maschine auch rund um den Globus eingesetzt werden. URLLC ermöglicht zudem die Echtzeitsteuerung industrieller Prozesse. Dies ist besonders wichtig für Anwendungen, die ein präzises Timing und eine hohe Zuverlässigkeit erfordern, wie zum Beispiel Smart Factorys oder Roboter-Montagelinien. Zudem können private 5G-Netze eine lokale Mobilfunkabdeckung innerhalb eines Betriebs sicherstellen, was zu tiefen Latenzzeiten beiträgt und gleichzeitig die Cybersicherheit und den Datenschutz erhöht.
Die zunehmende Automatisierung hat das Potenzial, Arbeitsplätze für monotone einfache Tätigkeiten zu ersetzen. Andererseits entstehen neue Stellen in der Forschung und Entwicklung sowie im Betrieb von URLLC-gesteuerten Anlagen. Dazu sind Kenntnisse in Kommunikationstechnologie, Maschinenbau, Elektrotechnik und Informatik erforderlich.
Forschung und Entwicklung findet in den Labors der Herstellerfirmen wie Ericsson, Nokia, Samsung und Huawei statt, die hauptsächlich im Ausland angesiedelt sind. Huawei betreibt seit 2020 ein Forschungslabor in Zürich mit über 100 Mitarbeitenden. An Schweizer Hochschulen, insbesondere an der ETH Zürich und in verschiedenen Fachhochschulen wie beispielweise an der OST in Rapperswil, arbeiten gut ein Dutzend Forschungsgruppen an der Weiterentwicklung von 5G-fähigen Anwendungen in verschiedenen Bereichen.
Künftig sind URLLC-Lösungen sind künftig auch in den Bereichen Infrastruktur und öffentliche Dienste geplant. So möchte der Bund bei den Blaulichtorganisationen das aktuelle Funksystem Polycom bis 2035 durch ein 5G-basiertes Sicherheitskommunikationssystem ersetzen. Dieses Netzwerk wird neben Gesprächsdaten auch Bilder, Drohnenaufnahmen von Schadensplätzen und andere kritische Informationen verarbeiten und im Ereignisfall allen Beteiligten in Echtzeit zugänglich machen. Auch das Kommunikationsnetz der SBB, das heute noch auf dem 2G-Standard basiert, soll unter dem Namen Future Railway Mobile Communication System (FRMCS) auf 5G-Basis modernisiert werden und so neue Möglichkeiten bei der Echtzeitsteuerung des Zugverkehrs und bei der Auslastung der Trassen ermöglichen.
5G-Netze und auch das künftige 6G-Netz wird zunehmend softwarebasierte Netzwerkkomponenten integrieren. Dadurch werden laufend flexible Anpassungen der Netze an sich verändernde Anforderungen möglich. Grosse Fortschritte verspricht sich die Kommunikationsbranche auch von KI-unterstützten Systemen, die selbstständig die beste Konfiguration für eine optimale Datenmenge und Geschwindigkeit suchen. Damit werden auch umfassender vernetzte Anwendungen wie Hologramme in der Bildübertragung möglich.
URLLC ist eine der möglichen Konfigurationen von 5G. Die hohe Flexibilität sowie die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten erlauben mobilfunkbasierte Datenübertragungen in vielen Branchen und haben dank der verschiedenen Eigenschaften ein hohes disruptives Potenzial. Da 5G-Netzwerke weltweit weiter ausgebaut werden, kann mit einer zunehmenden Anzahl innovativer Angebote und Dienste gerechnet werden, welche die digitale Transformation vorantreiben.
J Bieser, B Salieri, R Hischier, L Hilty. (2020) Next generation mobile networks: Problem or opportunity for climate protection?
3GPP. Release 20.
5G, Ultra-Reliable Low-Latency Communication (URLLC), Robotic Automation, Autonomous Driving, Remote Surgery
Christoph Studer (ETH Zürich), Hua Wang (ETH Zürich)
Ericsson, Huawei, Nokia, Salt, Sunrise, Swisscom, Swiss Transit Lab, Ypsomed