Expert:innen: Eliane J. Müller (Universität Bern)
Gelingt es, Stammzellen lebend und in grossen Mengen herzustellen, können sie für Anwendungen in der Medizin und gegebenenfalls in der Nahrungsmittelindustrie eingesetzt werden. Sie bieten bei schweren Krankheiten Ersatz für beschädigte Zellen oder Gewebe, eignen sich ausgezeichnet für Forschungszwecke und ansatzweise sogar zur Herstellung von kultiviertem Fleisch – auch als Laborfleisch oder In-vitro-Fleisch bekannt. Es ist noch unklar, ob sich letztere Anwendung durchsetzen wird. Im Medizinbereich ist die Technologie bei der Bevölkerung gut akzeptiert, sofern sie stark reguliert ist. Für die Schweiz als herausragenden Medtech-Standort bietet sie dank des hohen Marktpotenzials dementsprechend grosse wirtschaftliche Chancen.
Bild: CDC, Unsplash
Stammzellen sind Zellen, die ein unbegrenztes Wachstumspotenzial aufweisen. Sie bilden die Basis der Embryonalentwicklung und sind während des ganzen Lebens für die Regeneration bestimmter Gewebe von zentraler Wichtigkeit. Dabei entstehen durch Teilung aus Stammzellen erneut Stammzellen oder unter dem Einfluss von körpereigenen Signalen spezialisierte Zellen mit vorbestimmten Aufgaben. Die Biolog:innen unterscheiden zwischen verschiedenen Arten von Stammzellen, die entweder einen ganzen Organismus bilden oder auf die Regeneration bestimmter Organe beziehungsweise Zelltypen beschränkt sind. Bei der Massenkultivierung werden Stammzellen unter kontrollierten Bedingungen in grossen Mengen und in hoher Qualität zur direkten Verwendung in der therapeutischen oder regenerativen Medizin und in Zukunft eventuell auch in der Nahrungsmittelindustrie vermehrt.
Stammzellen, seien es körpereigene oder körperfremde, haben ein enormes Potenzial für die Forschung, Behandlung von Verletzungen sowie Therapie bei schweren Krankheiten. Sie werden heute zur Wiederherstellung oder als Ersatz für geschädigte Zellen oder Gewebe bei Blut-, Haut- oder Augenerkrankungen und in seltenen Fällen auch bei Knochenproblemen eingesetzt. Eine Vielzahl anderer möglicher Anwendungen befindet sich noch im Stadium klinischer Studien, wird aber vor allem in internationalen Forschungsprojekten stark gefördert. Stammzellen bilden somit einen wichtigen Baustein der therapeutischen, aber auch der regenerativen Medizin, deren Ziel die Heilung von Zellen, Geweben oder Organen mit Funktionsstörungen ist. Einer der nächsten Meilensteine ist die Herstellung von Organoiden – millimetergrossen, organähnlichen Mikrostrukturen – aus Stammzellen in Bioreaktoren (s. Showcase Implantate ab dem Lautsprecher), die sowohl in der Forschung als auch in der Therapie eingesetzt werden können. Zukünftige Anwendungen zielen auch auf stammzellenbasierte Therapien bei immunologischen und inflammatorischen Erkrankungen ab.
Eine weitere Anwendung wird in der Nahrungsmittelindustrie diskutiert, konkret bei der Herstellung von Laborfleisch (siehe Beitrag alternative Proteinquellen, siehe Showcase 3D-Druck von Lebensmitteln), also Fleisch, das aus Tierzellen im Labor gezüchtet wird. Dieser Markt ist aber momentan sowohl in der Schweiz als auch im Ausland klein und das Potenzial ungewiss. Zudem sind die Produkte noch sehr teuer und die Hauptargumente – reduzierter Einsatz von Antibiotika und verbesserte Ökobilanz – nicht belegt.
Die Massenkultivierung von Stammzellen stellt für die Gesellschaft eine grosse Chance dar: Sie verspricht Therapie oder sogar Heilung von zahlreichen schweren Krankheiten und ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer personalisierten Gesundheitsversorgung mit körpereigenen Stammzellen. Die rechtlich-regulatorischen Anforderungen sind hoch und eine sorgfältige Prüfung vor der Umsetzung ist unabdingbar, um ungewollte Folgen zu vermeiden. Die Kultivierung von Stammzellen für therapeutische Zwecke verspricht Milliardenumsätze. Für die Schweiz, die im Bereich der Medizintechnik einen weltweiten Spitzenplatz einnimmt, ist die Förderung dieser Technologie Pflicht, die sich mitunter aus fortgeschrittenen Forschungsvorhaben an den Hochschulen ableitet.
Für therapeutische Zwecke müssen lebende, funktionelle Stammzellen in hoher Qualität und grosser Menge hergestellt werden. Dazu sind Weiterentwicklungen bei den Reaktoren und bei der Verarbeitung nach der Vermehrung notwendig. Massenkultivierung von Stammzellen erfolgt heute meist in sogenannten Cell Factories, also in sterilen Kunststoffschalen, von denen bis zu 40 Stück auf einer Fläche von bis zu einem Quadratmeter übereinandergestapelt werden. Dies erlaubt einen hohen Durchsatz, selbst wenn Handhabung und Überwachung des Zellwachstums aufwendig sind. Alternativ können Stammzellen in einem Bioreaktor vermehrt werden; eine strikte Prozessüberwachung ist allerdings unabdingbar. Die Möglichkeit, mit 3D-Druck an die Eigenschaften der Zellen angepasste Reaktoren herzustellen, ist ein vielversprechendes Forschungsthema, das Lösungen für einige der Herausforderungen bieten könnte.
Es dürfte sich lohnen, im Rahmen der regenerativen Medizin die Stammzellenkultivierung und -therapie in vergleichbarem Ausmass zu fördern wie die Krebsforschung. Zudem gilt es, den Fokus vermehrt auf Regeneration und Prävention zu legen statt auf medikamentöse Behandlungen. Dazu ist es wichtig, die Entflechtung von Wissenschaft, Politik und Pharmaindustrie weiter voranzutreiben, um der starken Lobbyarbeit der Pharmaindustrie entgegenzuwirken und neue kreative Entwicklungen in zellbasierten Therapien zu fördern.