Expert:innen: Dominique Foray (EPFL), Pierangelo Gröning (Robert Mathys Foundation)
Industrie 5.0 ist die neuste Entwicklungsstufe der industriellen Revolution. Sie baut auf der Industrie 4.0 auf, welche die Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung von Maschinen und Prozessen hervorgebracht hat. Industrie 5.0 setzt dagegen den Menschen in den Mittelpunkt. Hybride Fertigungstechnologien kombinieren das menschliche Erfahrungswissen mit künstlicher Intelligenz, Robotik oder dem Internet der Dinge und schaffen so einen Zusatznutzen, der einem Unternehmen eine personalisierte, flexible und nachhaltige Produktion ermöglicht. Zudem sollen die Fähigkeiten und Möglichkeiten der Mitarbeitenden verbessert und ihr Arbeitsplatz so aufgewertet werden.
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Der Begriff Industrie 5.0 wurde 2021 in einem White Paper der Europäischen Kommission über eine wettbewerbsfähige, nachhaltige und soziale Industrie der Zukunft geprägt. Im Zentrum steht nicht mehr die technische Machbarkeit, sondern der Mensch, der sein Erfahrungswissen und seine Problemlösungskompetenz in den Produktionsprozess einbringt. Die Industrie 5.0 fusst direkt auf der vierten industriellen Revolution, oft auch Industrie 4.0 genannt. Zentral für den Schritt von Industrie 4.0 zur Industrie 5.0 ist ein Paradigmenwechsel, bei dem fortschrittliche Technologien genutzt werden, um die Rolle des Menschen – sowohl der Mitarbeitenden wie auch der Kund:innen – in den Produktionsprozess zu integrieren. Ziel ist eine hybride Fertigungstechnologie, die einerseits den Mitarbeitenden ihre zentrale Rolle zurückgibt und ihren Arbeitsplatz so stärkt und auch besser würdigt, und andererseits den Kund:innen ein nachhaltiges Produkt bietet.
Über die Konvergenz von Digitalisierung, Big Data und künstlicher Intelligenz (KI) werden die Mitarbeitenden, die in der produzierenden Industrie eine Fertigungslinie steuern, direkt mit den Kund:innen verbunden, die einen speziellen Wunsch für ihr Produkt haben. KI-Systeme beispielsweise werten die aus Kundenbeziehungen gewonnenen Datenmengen in Echtzeit aus und unterstützen dadurch Entscheidungen für eine kontinuierliche Produktoptimierung. Cobots (kollaborative Roboter) werden über Benutzungsoberflächen mit den Mitarbeitenden verbunden und kombinieren deren Kreativität und Problemlösungsfähigkeiten mit der Präzision und Ausdauer von Maschinen im Produktionsprozess. Augmented Reality (AR) und Virtual Reality (VR) bieten immersive Trainingsumgebungen und unterstützen bei komplexen Montage- oder Wartungsarbeiten. Ein weiteres Anliegen ist die Steigerung des Wohlbefindens der Mitarbeitenden zum Beispiel durch Exoskelette oder bioinspirierte Wearables, welche die Leute bei belastenden Arbeitsprozessen unterstützen.
Die Anwendungen von Industrie 5.0 sind derzeit noch sehr beschränkt. Erste Beispiele sind KI-Apps im Bereich des Kundenservice. KI-Systeme können Daten von Konsument:innen in Echtzeit auswerten und die Ergebnisse direkt in konsequent kundenorientierte Produkte und Dienstleistungen zurückfliessen lassen. Zunehmend werden sogenannte Matching Engines angewendet, welche die Prozesse in den Fertigungslinien direkt auf die Bedürfnisse der Kund:innen abstimmen – analog den Matching-Engines in der Finanzindustrie, welche die Nachfrage der Käufer:innen und die Angebote der Verkäufer:innen über spezifische Algorithmen in Echtzeit abgleichen und die passenden Verbindungen herstellen.
Weitere Anwendungen werden in der herstellenden Industrie entwickelt. Cobots verbinden in teilautomatisierten Arbeitsprozessen das Know-how der Fachkräfte mit der Präzision und Ausdauer der Maschinen. Dabei werden die Mitarbeitenden von den Robotern nicht ersetzt, sondern bei monotonen oder körperlich belastenden Arbeiten unterstützt. Ziel ist, dass sich die Mitarbeitenden dadurch Tätigkeiten widmen können, die kreativer sind oder mehr Wertschöpfung bringen.
Industrie 5.0 will Mitarbeitende mit digitalen Hilfsmitteln permanent an die stets wechselnden Herausforderungen in der Fertigung heranführen. Mit einem solchen Upskilling wird der menschliche Arbeitsplatz aufgewertet. Dies stärkt die Motivation und Zufriedenheit der Mitarbeitenden, was nicht nur den Fachkräftemangel lindert, sondern auch die Produktionsprozesse agiler und resilienter macht – was schlussendlich wirtschaftliche Vorteile bringt.
Die Aufwertung des menschlichen Beitrags wirkt sich in allen Arbeitsprozessen positiv auf die Zuverlässigkeit, Ressourceneffizienz und Produktivität eines Unternehmens aus und verschafft diesem einen Wettbewerbsvorteil in den Märkten der Zukunft. Darüber hinaus können die Firmen ihr Engagement für Nachhaltigkeit verstärken, die Zusammenarbeit mit den Stakeholder:innen verbessern und agile, datengesteuerte Entscheidungen treffen.
Voraussetzung für die Umsetzung des Konzepts Industrie 5.0 ist eine sichere Vernetzung und erweiterte Programmierkapazitäten für die Bewältigung der zunehmenden Datenmengen in KI- und Automatisierungsanwendungen. Dazu muss die Schweiz die Infrastruktur für eine ausreichende Konnektivität und optimale Datenübertragung aufbauen. Dies ist nur möglich, wenn das 5G-Netz hierzulande vollständig ausgerollt wird (siehe Ultrazuverlässige Echtzeitkommunikation).
Zudem wirft die rasante Zunahme der erhobenen Daten – darunter auch persönliche Daten von Mitarbeitenden oder Kund:innen – neue Fragen betreffend Datensicherheit, Datenschutz und auch Datenverwendung auf, die noch weitgehend unreguliert sind. Ein neues Gesetz, welche die Verwendung von KI-Daten regelt, wird in der Schweiz erst im Jahr 2028 erwartet. Entsprechende Regulierungen sollten das Recht auf die eigenen Daten ausreichend schützen und gleichzeitig nicht innovationshemmend sein, was angesichts der Komplexität eine grosse Herausforderung für die Legislative darstellt.
Der Einsatz der neuen Technologien kann zu Anwendungen führen, die auf eine zunehmende Kontrolle und Überwachung der Mitarbeitenden ausgerichtet sind, mit entsprechend negativen Folgen für deren Zufriedenheit. Zudem ist das Risiko der Diskriminierung von bestimmten sozialen Gruppen in KI-Systemen, die als Entscheidungshilfen eingesetzt werden, besonders hoch. Das hängt damit zusammen, dass bereits die Trainingsdaten für die dafür verwendeten Deep-Learning-Algorithmen einen gesellschaftlichen Bias oder eine unzureichende faktische Basis enthalten können, was meistens zu unfairen Entscheiden führt, zum Beispiel im Banken- oder Versicherungswesen.
Die Schweizer Industrie ist in einem herausfordernden Transformationsprozess hin zu einer nachhaltigen und resilienten Produktion. Industrie 5.0 unterstützt diese, wenn sie sich zu einer «Ökonomie der guten Arbeitsplätze» entwickelt. Als guter Arbeitsplatz wird eine Stelle verstanden, die wirtschaftliche Sicherheit, gute Sozialversicherungen und ein vernünftiges Mass an Autonomie bietet. In der Tendenz sind solche Mitarbeitende zufriedener, identifizieren sich mehr mit ihrem Job, nutzen und initiieren digitale Lösungen, halten ihrem Betrieb die Treue und bleiben länger gesund.
Die Möglichkeit, Daten von Kund:innen in Echtzeit zu sammeln und zu analysieren, fördert die Innovation bei Produkten und Dienstleistungen. Unternehmen können so den sich ständig ändernden Anforderungen des Marktes besser gerecht werden. Gerade bei KMU zeigte sich, dass allein technologiegetriebene Lösungen der Industrie 4.0 nicht die erhofften Effizienzgewinne brachten, weil die industrielle Fertigung nicht ausreichend auf differenzierte Produktpaletten und häufige Nachfrageschwankungen ausgerichtet war.
Die Arbeitsumgebung von Industrie 5.0 erfordert einen Kultur- und Bewusstseinswandel im ganzen Betrieb, der die Zusammenarbeit zwischen Menschen und Technologien wertschätzt und die Mitarbeitenden dazu ermutigt, diesen Paradigmenwechsel mitzugestalten. Dafür benötigen sie Kenntnisse in Theorie und Anwendung fortschrittlicher Technologien wie KI, Robotik und Datenanalyse. In der Schweiz herrscht jedoch ein Mangel an gut qualifizierten Fachkräften, weil der Arbeitsmarkt aufgrund des hohen Bedarfs der Tech-Giganten und multinationalen Konzerne fast ausgetrocknet ist. Umschulungs- und Weiterbildungsprogramme sollten deshalb gezielt unterstützt werden.
Als Innovationshub im internationalen Umfeld kann die Schweiz im Bereich Forschung und Entwicklung gut mithalten. Allerdings unterliegen Fortschritte bei den Anwendungen von Industrie 5.0 bedeutenden Skaleneffekten bezüglich Forschungsinvestitionen und Arbeitskräften. Darüber hinaus hängen sie von der ausreichend vorhandenen Dateninfrastruktur ab. Hier sind die Möglichkeiten der Schweiz als kleines Land im Vergleich zu anderen Nationen oder auch zu den Tech-Giganten wie Google, Amazon und Facebook begrenzt. Effiziente Fördermechanismen für den Technologietransfer aus den Forschungsinstituten zu den KMU könnten diesen Nachteil teilweise ausgleichen.
Das Konzept der Industrie 5.0 wird in Bereiche hineinwachsen, die nicht der produzierenden Industrie zugerechnet werden wie beispielsweise das Bildungs- oder Gesundheitswesen. In der Schule wird es möglich werden, computergestützte Lernsoftware den individuellen Bedürfnissen der Schüler:innen anzupassen. Im Gesundheitswesen können neue Technologien die Behandlungskompetenzen von Pfleger:innen oder medizinisch-technischen Fachkräften erheblich verbessern. Dadurch könnten diese medizinische Aufgaben übernehmen, die bisher nur ärztlichem Personal mit langjähriger Berufserfahrung vorbehalten war. Dies könnte den Fachkräftemangel in der Medizin mildern, die Gesundheitskosten senken und erst noch das Berufsbild vieler nicht-ärztlicher Fachkräfte attraktiver machen.
Insgesamt steht die Industrie 5.0 für eine vielversprechende Zukunft. Die Kombination von menschlicher Kreativität und technologischer Präzision bietet enorme Potenziale für eine effizientere, personalisierte und nachhaltige Produktion. Unternehmen, die diese Chancen erkennen und nutzen, werden langfristig erfolgreich sein und einen wertvollen Beitrag zur Gesellschaft leisten.
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