Expert:innen: André Bardow (ETH Zürich), Tim Börner (Empa), Manfred Heuberger (Empa)
Kunststoffe tragen erheblich zur globalen CO2-Belastung bei und sind für mindestens 4,5 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich. Dabei stellt die Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen wie Erdöl eine zentrale Herausforderung dar. Die Frage nach nachhaltigen Kohlenstoffquellen wird mit zunehmendem Druck auf Industrie und Politik, Netto-Null-Emissionen zu erreichen, deshalb immer drängender. Eine mögliche Antwort darauf ist die Herstellung von Kunststoffen aus Kohlendioxid, das aus Industrieabgasen oder der Luft gewonnen wird. Die Technologie könnte fossile Quellen ersetzen und gleichzeitig zu einer Kohlenstoff-Kreislaufwirtschaft beitragen.
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Kunststoffe sind Polymere und bestehen durchschnittlich zu 80 Prozent aus Kohlenstoff. Dieser stammt heute fast ausschliesslich aus fossilen Quellen wie Erdöl. In Zukunft könnte der Kohlenstoff aus Kohlendioxid (kurz CO2) gewonnen werden, das wie Biomasse (siehe Bioplastik aus Abfall) eine erneuerbare Rohstoffquelle ist. Kunststoffe werden somit CO2-basiert. CO2 kann aus Industrieabgasen oder aus der Luft mittels der Technologie Carbon Capture and Utilization (kurz CCU, siehe Negativemissionstechnologien) abgeschieden und in Kunststoffe umgewandelt werden. So wird aus dem unerwünschten Abfallprodukt CO2 ein nützlicher Wertstoff. Bisher existieren nur wenige CCU-Technologien, die CO2 direkt in Polymere umwandeln können; mehrheitlich kommen biologische und chemische Prozesse in Kombination zum Einsatz, die über mehrere Zwischenprodukte wie Ethanol, Ethylen und Methanol zu Polymeren führen.
Neben der Substitution fossiler Rohstoffe haben CO2-basierte Kunststoffe das Potenzial, CO2 in langlebigen Produkten temporär oder dauerhaft zu speichern – vorausgesetzt, es finden sich geeignete Lagerungsstätten.
Erste marktfähige Produkte sind bereits verfügbar. Die grösste Gruppe von CO2-basierten Kunststoffen sind Polycarbonate, die für transparente, hochfeste Bauteile verwendet werden, und Polyole, die Basischemikalien sind. Zudem laufen Pilotprojekte zur Produktion von Polyurethanen, die für Schaumstoffe wie beispielsweise Matratzen, für Lacke und Klebstoffe sowie für elastische Bauteile verwendet werden. In der Schweiz ist die Firma On eine Vorreiterin in der Anwendung von CO2-basiertem Ethylenvinylacetat für die Produktion ihrer Schuhe.
Die Chancen CO2-basierter Kunststoffe liegen in der Defossilisierung der Kunststoffindustrie. Obwohl erst wenige Anwendungen marktreif sind, ist das Spektrum der möglichen Anwendungen riesig. Grundsätzlich können alle Kunststoffe auf CO2-Basis hergestellt werden. Die entsprechenden Verfahren dafür sind aus technologischer Sicht mehrheitlich aber noch nicht ausgereift. Die Weiterentwicklung und Implementierung dieser Technologie fördert die Nutzung lokaler Ressourcen und reduziert die Abhängigkeit von fossilen und anderen importierten Rohstoffen.
Für die rohstoffarme Schweiz ist eine Diversifizierung der Kohlenstoffquellen hin zu CO2, Biomasse und Kunststoffrezyklaten (siehe Kunststoffrecycling) zentral für die Versorgungssicherheit. Das Land verfügt über eine starke Forschungslandschaft. Zudem gibt es eine intakte Kunststoffindustrie für Nischenanwendungen, und in der Schweiz ist mit Climeworks auch das weltweit erste Unternehmen angesiedelt, das CO2 aus der Luft abscheidet. Mit dieser kombinierten Expertise kann sich die Schweiz als Innovationsschmiede profilieren. Die kommerzielle Produktion von Kunststoffen aus CO2 dürfte zunächst jedoch auf hochwertige Nischenanwendungen im Hochpreissegment beschränkt sein.
Die Herstellung von Kunststoffen aus CO2 in grossem Massstab ist sehr energieintensiv. Um den CO2-Fussabdruck im Vergleich zu Kunststoffen aus fossilen Quellen zu reduzieren, muss die dafür erforderliche Energie erneuerbar sein und günstig gewonnen werden. Die Konkurrenzfähigkeit von CO2-basierten Kunststoffen hängt stark von den Prozesskosten für die CO2-Abscheidung und der Effizienz der Umwandlungsprozesse ab – beide bedürfen einer kontinuierlichen Optimierung. Dafür sind Fortschritte bei den biochemischen Prozessen und bei den eingesetzten Katalysatoren erforderlich. Der hohe Energiebedarf bei der Produktion von CO2-basierten Kunststoffen konkurriert mit anderen Sektoren. Die Wirtschaftlichkeit muss kritisch geprüft werden.
Ob sich die Schweiz als Produktionsstandort etablieren kann, hängt von der CO2-Bepreisung ab: Die aktuelle CO2-Steuer von knapp 120 Schweizer Franken pro Tonne kompensiert die hohen Produktionskosten in der Schweiz nicht. Zudem fehlen Anreize für die Reduktion der CO2-Emissionen in der Industrie wie beispielsweise das Emissionshandelssystem der Europäischen Union. Auch klare Regeln für die Anrechnung von CO2-Einsparungen in diesen Kunststoffen könnten ein geeigneter Anreiz sein und würden innovationsfördernd wirken.
CO2-basierte Kunststoffe setzen auf lokale Ressourcen, reduzieren die Abhängigkeit von Rohstoffimporten und stärken die Zukunftsfähigkeit durch den Wegfall fossiler Lieferketten. So bieten sie sowohl der anwendenden wie auch der produzierenden Industrie die Möglichkeit, ihren CO2-Fussabdruck zu senken. Mittel- bis langfristig soll die Technologie die Wirtschaftlichkeit der Unternehmen erhöhen.
Die gesamte Wertschöpfungskette von der CO2-Abscheidung über die Umwandlung von CO2 in Kunststoffe bis hin zur Anwendung der Produkte umfasst zahlreiche Wirtschaftszweige. Entscheidend ist die Fähigkeit der Unternehmen, sich zu vernetzen und sich in die Wertschöpfungskette zu integrieren. Eine erfolgreiche Technologieentwicklung bedingt interdisziplinäre Kompetenzen, insbesondere in den Bereichen Anlagenbau, Biotechnologie, Chemie, Elektronik, Materialwissenschaften, Physik und Verfahrenstechnik. Für die Anwender:innen werden Kenntnisse in der Ökobilanzierung sowie Prozess- und Systemmodellierung in Kombination mit künstlicher Intelligenz von Vorteil sein. Denn es gilt, grosse Datenmengen über die variablen Material- und Energieströme sowie ökonomische Aspekte zu handhaben. Die Ausbildung in der Schweiz bietet eine gute Grundlage, reicht aber nicht aus, um den Bedarf an Arbeitskräften und Fachwissen zu decken.
Im internationalen Vergleich ist die Schweiz in der Forschung über CO2-basierte Kunststoffe gut positioniert. Dazu trägt auch der Nationale Forschungsschwerpunkt «Nachhaltige chemische Prozesse durch Katalysatordesign» (kurz NFS Catalysis), der von 2020 bis 2027 durch den Schweizerischen Nationalfonds finanziert wird, bei. Um die Umsetzung der Technologie in die Praxis zu stärken, sind nun Investitionen in Pilot- und Demonstrationsanlagen erforderlich.
Prinzipiell können alle Kunststoffe oder deren Basischemikalien aus CO2 hergestellt werden. Damit verfügt die Technologie über das Potenzial, zu einer CO2-negativen Kunststoffwirtschaft beizutragen. Der Einsatzbereich hängt wesentlich von den Technologien ab, die für die CO2-Umwandlung eingesetzt werden. Technisch am weitesten fortgeschritten sind Drop-in-Chemikalien für die Polymersynthese, also Basischemikalien aus erneuerbaren Rohstoffen, die in der Struktur mit ihren fossilen Analoga identisch sind. Denkbar sind auch neuartige Polymere, die in der Landwirtschaft, Lebensmittelindustrie und Medizin eingesetzt werden.
Die Umwandlung von CO2 in wiederverwertbare Kunststoffe trägt zu einer Kohlenstoff-Kreislaufwirtschaft bei. Mögliche Anwendungen sind Bauteile für die Automobil- und Elektronikindustrie sowie Additive für Bitumen und Verpackungen. Wenn es gelingt, Abfälle von CO2-basierten Kunststoffprodukten – analog zu radioaktiven Abfällen – in Endlagern sicher und dauerhaft, sprich mindestens 1000 Jahre, zu speichern, entstehen CO2-Senken. Dazu müssten allerdings das Abfallgesetz revidiert und geeignete Lagerstätten und -methoden gefunden sowie ein alternatives Abgabesystem – beispielsweise eine vorgezogene Entsorgungsgebühr – geprüft werden.
Kunststoffe aus CO2 sind in Ergänzung zu Kunststoffen aus Biomasse und aus dem Recycling eine vielversprechende Lösung für die Defossilisierung der Kunststoffindustrie. Sie könnten nicht nur zur Reduktion der CO2-Emissionen beitragen, sondern auch wirtschaftliche Chancen für die Schweiz schaffen. Um ihr Potenzial voll auszuschöpfen, müssen technische und regulatorische Hürden überwunden werden: Denn die Schweiz verfügt zwar über das Wissen und die Ressourcen für eine Vorreiterrolle in diesem Bereich; dafür sind aber förderliche Rahmenbedingungen sowie gezielte Investitionen in Forschung und Pilotanlagen unumgänglich.
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Nova Institut. CO2-based Fuels and Chemicals Conference.
CO2-based Polycarbonates, CO2-based Plastics, CO2-based Chemicals
André Bardow (ETH Zürich), Tim Börner (Empa, HES-SO Valais-Wallis), Jeroen A. van Bokhoven (ETH Zürich), Christophe Copéret (ETH Zürich), Manfred Heuberger (Empa), Christoph Müller (ETH Zürich), Javier Pérez-Ramírez (ETH Zürich)
Arrhenius, Casale, Climeworks, Chemtech, Kandevia Inova, Methanology, Neustark