Expert:innen: Ingo Burgert (ETH Zürich/Empa), Eliav Haskal (Universität Fribourg), Michael Mayer (Universität Fribourg), Ullrich Steiner (Universität Fribourg), Viola Vogler (Universität Fribourg)
Die Technologien Bioinspiration und Biointegration suchen innovative Lösungsansätze in der Natur und kopieren deren wichtigste Funktionen, um neuartige Materialien, Strukturen und Prozesse zu entwickeln. Die Anwendungsmöglichkeiten sind vielfältig und reichen von der Industrie über die Elektronik und die Energiewirtschaft bis in die Medizin. Bioinspiration und Biointegration bieten Wirtschaft und Gesellschaft grosse Chancen für nachhaltigere und ressourcenschonendere Prozesse. Um den Schritt in marktfähige Produkte zu ermöglichen, wäre eine gezielte Finanzierung zukunftsträchtiger Projekte erforderlich.
*Aktualisierte Version des Beitrags von 2023.
Bioinspiration ist ein Ansatz zur Entwicklung fortschrittlicher Materialien, Systeme und Strukturen nach dem Vorbild der Natur. Dabei werden die natürlichen Vorbilder charakterisiert und deren wichtigste Funktionen abstrahiert, um diese in technischen Lösungen umzusetzen. Als Biomimikry oder Biomimetik wird die exakte Nachahmung der in natürlichen Systemen beobachteten Merkmale bezeichnet. Die Biointegration wiederum integriert natürliche oder biologisch inspirierte Materialien, Prozesse oder sogar lebende Systeme wie Mikroorganismen in technische Systeme, beispielsweise in der Produktion von Medikamenten oder in der Abfallentsorgung. Bioinspiration und Biointegration spielen in der Biotechnologie, in der chemisch-pharmazeutischen Industrie, in der Materialentwicklung, in der Architektur, in der Diagnostik und in der Kreislaufwirtschaft eine bedeutende Rolle.
Insekten und Pflanzen, deren Oberflächen Wasser, Proteine oder andere Substanzen abstossen, dienen als Inspiration für die Entwicklung fortschrittlicher Materialien, auf denen sich keine Organismen ansiedeln können oder deren Oberfläche wasserabweisend ist. In der Luft- und Schifffahrt spielt die Bioinspiration in der Konstruktion möglichst energiesparender Verkehrsmittel eine grosse Rolle. So sind zum Beispiel die aerodynamisch vorteilhaften Winglets an den Flügeln moderner Passagierjets nach dem Vorbild von Adlerflügeln gebaut. In der Schifffahrt trägt eine von Fischen inspirierte verbesserte Hydrodynamik dazu bei, den Widerstand des Wassers zu reduzieren.
Weitere Beispiele, die bereits vermarktet werden, stammen aus der Medizin und den Materialwissenschaften. Xemperia, ein Spin-off der Universität Freiburg, produziert einen innovativen Bluttest für Brustkrebs nach dem Vorbild der natürlichen Immunantwort des Körpers. Der Test weist in Immunzellen diejenigen Biomarker nach, die durch die Anwesenheit von Krebszellen verändert wurden. Das EPFL-Spin-off Morphotonix nutzt die Nanolithografie zur Identifikation von Produkten, um beispielsweise Banknoten, Pässe oder Uhren vor Fälschungen zu schützen. Dabei werden kleinste strukturelle Veränderungen als unkopierbare Sicherheitsmerkmale direkt in die Produkte eingraviert. Vorbild sind nanostrukturelle Veränderungen in den Flügeln der tropischen Morpho-Falter (Himmelsfalter), deren Farbe sich je nach Einfallswinkel des Lichts in unterschiedlichem Blau schillert.
Bioinspiration und Biointegration können dank ressourcenschonenden und nachhaltigen Prozessen Teil einer Bioökonomie mit kleinem ökologischem Fussabdruck sein. Bei der Nutzung biogener Ressourcen hat in der Schweiz der mittels Bioinspiration optimierte Einsatz von Holz grosse wirtschaftliche Bedeutung. Seine faserartige Zellstruktur mit grosser Porosität bietet eine hohe Stabilität bei tiefer Dichte. Diese Eigenschaften werden kombiniert mit Beton zu Holzhybrid-Bauelementen verarbeitet und ermöglichen so eine nachhaltigere Architektur. Wegen des grossen CO2-Abdrucks im Gebäudebereich ist der Hebeleffekt besonders gross. Gleichzeitig bietet die poröse Struktur des Holzes Raum zur Funktionalisierung des Materials, um beispielsweise biobasierte Elektronik zu integrieren. Daneben ist Holz neben Flachs, Hanf oder Baumwolle ein wertvoller Rohstoff für die Gewinnung von biogenen Mikro- und Nanozellulosen, die Anwendungen in Verbundwerkstoffen, in der Verpackungsindustrie, in der Medizin, in der Elektronik und in der Umwelttechnik finden.
Der Einsatz von Biointegration ist weniger verbreitet und findet meist erst im Labormassstab statt. Am fortgeschrittensten sind biologisch motivierte Verfahren zur Produktion von Antikörpern mit Mikroorganismen oder der Abbau von Mikroplastik durch optimierte bakterielle Enzyme. Auch bei der Herstellung von Biotreibstoffen spielen Mikroorganismen eine zentrale Rolle.
Grundsätzlich bieten bioinspirierte Produkte und Anwendungen viele Vorteile. Sie sind nachhaltiger, oft weniger toxisch sowie ressourcen- und umweltschonender in der Herstellung als herkömmliche Produkte. Die Entdeckung neuer biologischer Systeme und Eigenschaften ist die Grundvoraussetzung für innovative Anwendungen. Die Treiber der Technologie sind deshalb die Hochschulen. Initiativen wie das am Adolphe Merkle Institute der Universität Freiburg angesiedelte NCCR Bio-Inspired Materials – der Nationale Forschungsschwerpunkt Bioinspirierte Materialien – oder das Forschungsprogramm ALIVE – Advanced Engineering with Living Materials der ETH Zürich sind gut positioniert, um die anstehenden technischen Herausforderungen anzupacken. Bei der Verwendung der biogenen Ressource Holz sind Industrie und Hochschulforschung gleichermassen am Fortschritt beteiligt.
Die Skalierung innovativer Ideen und Patente bereitet noch etliche Schwierigkeiten. Eine grosse Herausforderung ist einerseits die mangelnde Stabilität der Materialien und Systeme sowohl im Fertigungsprozess als auch über eine lange Lebenszeit des Produktes. Andererseits ist das Verständnis der technischen Herausforderungen unter den Grundlagenforschenden oft wenig verbreitet. Um eine Skalierung zu erleichtern, sollten deshalb Vernetzung und Austausch zwischen Akademie und Industrie gefördert werden.
In der Anwendung der biogenen Ressource Holz im Gebäudebereich zählt die Langlebigkeit und Wasserbeständigkeit des Produktes zu den wichtigsten Herausforderungen. Um diese zu gewährleisten, müssen holzbasierte Elemente oft modifiziert oder mit Holzschutzmitteln behandelt werden. Letztere belasten die Umwelt und können die Rezyklierbarkeit von Holz einschränken. Eine weitere Herausforderung ist der hohe Energiebedarf für die Aufschlüsselung von Zellulose aus Holz als Ausgangsmaterial für hochwertige Mikro- und Nanozellulosen.
Die Orientierung an natürlichen Prozessen und Rohstoffen bringt der Industrie viele Vorteile. Unternehmen, die solche Produkte auf den Markt bringen, gelten als innovativ und können ihre Wettbewerbsfähigkeit im Bereich nachhaltiger Technologien ausbauen. Bioinspiration und Biointegration umfasst die ganze Wertschöpfungskette vom Einkauf der Ressourcen über die Produktion bis zum Vertrieb und dem Marketing.
Für Mitarbeitende in der Forschung und Entwicklung sind Hochschulausbildungen in Naturwissenschaften, Materialwissenschaften und Ingenieurwissenschaften unerlässlich. In der Produktion sind Kenntnisse in der Prozesstechnologie erforderlich. Darüber hinaus sind die Entwicklung und Anwendung der Technologie stark vom interdisziplinären Austausch zwischen verschiedenen Fachgebieten geprägt. Neben ausgewiesenen Fachkenntnissen müssen Mitarbeitende deshalb auch die Fähigkeit mitbringen, über die Grenzen des eigenen Faches hinaus denken zu können.
Die Schweiz ist vor allem im Design und in der Fertigung von Holzbauelementen stark. Dies zeigt sich bei der Verwirklichung entsprechender Bauprojekte, wo die Schweiz über die Grenzen hinaus Akzente setzen kann. In der Forschung und Entwicklung neuer Produkte auf der Basis von Holz wie Zellulosen, Hemizellulosen oder Lignin sind die skandinavischen Länder einen Schritt voraus.
In anderen Bereichen der Bioinspiration und Biointegration spielt die Schweiz in der Forschung punktuell eine starke Rolle, ist in der Umsetzung jedoch nicht an vorderster Front dabei. Dank der internationalen Ausrichtung grosser Schwerpunktprogramme wie dem NCCR Bio-Inspired Materials spielen ausgewählte Forschungsgruppen im europäischen Netzwerk eine führende Rolle. Schweizer Institutionen arbeiten zudem auch im EU-Förderprogramm INTEGRATE eng mit europäischen Forschungspartnern zusammen.
Das Potenzial von Bioinspiration und Biointegration für zukünftige Anwendungen ist sehr gross. Erforscht werden zum Beispiel neuartige Pigmente, die in Nahrungsmitteln oder der Kosmetik eingesetzt werden können. Das Start-up Seprify – ein Spin-off der Universität Freiburg – entwickelt natürliche, zellulosebasierte weisse Pigmente, die in Zahnpasta und Kosmetika den herkömmlichen Weissmacher Titaniumdioxid ersetzen soll, der potenziell umweltschädlich und krebserregend ist. In der Wundversorgung werden im Adolphe Merkle Institute biobasierte Chemikalien als selbstheilende Materialien mit antiviraler oder antibakterieller Wirkung entwickelt. Die stromproduzierenden Zellen des Zitteraals dienen als Modell für eine selbstaufladende und biokompatible Stromquelle für Implantate wie Herzschrittmacher, Sensoren, Prothesen oder Medikamentenpumpen, die batterielos funktionieren und Ersatzoperationen überflüssig machen. Vielversprechend sind auch Anwendungen im Bereich von «responsive materials», also Biosensoren, die äussere Einflüsse registrieren und darauf reagieren. Weiter sind bioinspirierte Verfahren wie die künstliche Photosynthese in Entwicklung, um mithilfe von Licht und CO2 synthetische Treibstoffe – oder sogenannte Synfuels – herzustellen.
Das Potenzial von Bioinspiration und Biointegration für nachhaltige Produkte und energieeffiziente Prozesse ist gross. Der Ansatz kann zu einer nachhaltigeren Produktion beitragen, weil natürliche Prozesse bei Umgebungstemperatur ablaufen und nachwachsende Rohstoffe nutzen. Ihren Grundsatzbeweis (proof of principle) hat die Natur bereits erbracht und die Abläufe sind durch die Evolution über Jahrtausende hinweg optimiert worden. Um das Potenzial zu nutzen, braucht es in der Schweiz eine gezielte Förderung der Grundlagenforschung und nationale, disziplinenübergreifende Programme, die Wissenschaft und Industrie vernetzen und die Kommerzialisierung unterstützen.
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ETH Zürich. ALIVE | Advanced Engineering with Living Materials.
Nationaler Forschungsschwerpunkt (NFS) Bio-inspirierte Materialien. Bio-inspired materials.
Wyss Institute. Wyss Institute at Harvard University.
Bioinspiration, Biodesign, Biobasierte Bau- und Werkstoffe
Guillermo Acuna (Universität Fribourg), Esther Amstad (EPFL), Serge Biollaz (PSI), Luciano Boesel (Empa), Jessica Clough (Universität Fribourg), Alke Fink (Universität Fribourg), Andrea Frangi (ETH Zürich), Katharina Fromm (Universität Fribourg), Alessandro Ianiro (Universität Fribourg), Andreas Kilbinger (Universität Fribourg), Harm-Anton Klok (EPFL), Marco Lattuada (Universität Fribourg), Jeremy Luterbacher (EPFL), Matthias Lutolf (EPFL), Ingo Meier (BFH), Jovana Milic (Universität Fribourg), Gustav Nyström (Empa), Raphaël Pugin (CSEM), Aleksandra Radenovic (EPFL), Barbara Rothen (Universität Fribourg), Curzio Ruegg (Universität Fribourg), Stefan Salentinig (Universität Fribourg), Frank Scheffold (Universität Fribourg), Gilberto Siqueira (Empa), Francesco Stellacci (EPFL), André Studart (ETH Zürich), Heiko Thömen (BFH), Mark Tibbitt (ETH Zürich), Stefano Vanni (Universität Fribourg), Christoph Weder (Universität Fribourg), Yves Weinand (EPFL)
3D AG, Asterivir, Blumer Lehmann, Erne Holzbau, FenX, Kronospan, Microcaps, Renggli Holzbau, Schilliger Holz, Seprify, Spectroplast, Weidmann Fiber Technology (vormals Wicor Holding), Xemperia