Expert:innen: Wolfger von der Behrens (ETH Zürich), Erik Schkommodau (FHNW), Mehmet Fatih Yanik (ETH Zürich)
Menschen stossen in vielen Bereichen an die Grenzen ihrer körperlichen und kognitiven Leistungsfähigkeit, was Mobilität, Gesundheit und Effizienz beeinträchtigen kann. Human Augmentation setzt hier an, indem sie mithilfe innovativer Technologien Einschränkungen überwindet und Fähigkeiten erweitert. Von Prothesen bis zu Hirn-Computer-Schnittstellen schafft sie Lösungen für Herausforderungen im Alltag, in der Medizin und in anspruchsvollen Arbeitsumfeldern. Trotz einiger spektakulärer Durchbrüche bei medizinischen Anwendungen ist das unausgeschöpfte Potenzial noch riesig.
Bild: Shawn Day, Unsplash
Human Augmentation ist die Überlagerung von Technik und menschlicher Wahrnehmung: Signale am oder im Menschen sowie in seiner Umgebung werden dabei erfasst, ausgewertet und miteinander kombiniert. Die im menschlichen Körper sporadisch oder kontinuierlich erhobenen Daten werden oft mit Umgebungsdaten verrechnet und mit biologischen, physikalischen oder allgemeinen Modellen abgeglichen. Dabei kommen unter anderem Hirn-Computer-Schnittstellen – oder sogenannte Brain-Machine-Interfaces – zum Einsatz, die ausgewählte Hirnregionen auslesen oder diese durch gezielte Impulse beeinflussen. Solche Hirn-Computer-Schnittstellen werden aktuell zu Forschungszwecken und in der Therapie genutzt.
Heutige Anwendungen von Human Augmentation verbessern bereits in vielen Bereichen die Lebensqualität von Menschen mit Einschränkungen. In der Medizin und in der Rehabilitation verbessern zum Beispiel Cochlea-Implantate, elektrische Hörprothesen, die sensorischen Fähigkeiten der Patient:innen. Prothesen mit Sensorschnittstellen und Exoskelette verhelfen Menschen mit körperlichen Einschränkungen zu neuer Mobilität. Wearables wie Smartwatches oder implantierbare Sensoren überwachen die Gesundheitsdaten von Patient:innen in Echtzeit und unterstützen präventive sowie therapeutische Massnahmen. In der Arbeitswelt kommen bereits Exoskelette zum Einsatz, die körperliche Belastungen reduzieren oder komplexe Aufgaben erleichtern.
Die Ursache von einigen neurologischen Krankheiten wie Epilepsie oder Parkinson sowie von psychischen Erkrankungen wie Angst- und Zwangsstörungen, Depressionen oder Suchtverhalten sind vermutlich Fehlfunktionen bestimmter Hirnregionen. Bei neuromodulativen Therapien zur Behandlung solcher Krankheiten werden Elektroden implantiert, um die fehlerhafte elektrische Aktivität zu regulieren.
Die Forschungsgruppen von Jocelyne Bloch und Grégoire Courtine haben neuartige Implantate für das Rückenmark entwickelt, welche die Rumpf- und Beinmuskulatur stimulieren und steuern. In Kombination mit künstlicher Intelligenz sind gelähmte Patient:innen in der Lage, wieder zu gehen.
Auch wenn sich erste medizinische Erfolge eingestellt haben, bleibt der Forschungsbedarf hoch. Bisher nicht beantwortbare Fragen können mithilfe neuer Methoden der künstlichen Intelligenz geklärt werden. Daraus können neue präventive, diagnostische und therapeutische Ansätze resultieren. Human Augmentation dürfte aber auch in der Arbeitswelt ein disruptives Potenzial haben: Die Überlagerung von physiologischen Daten vom Menschen mit physikalischen Daten aus der Umgebung sowie der Einsatz von Hirn-Computer-Schnittstellen erhöhen die Präzision und Effizienz der Arbeitsprozesse und fördern ein innovatives Umfeld in den Unternehmen – alles entscheidende Vorteile in einem hochkompetitiven Markt wie der Schweiz.
Trotz der vielversprechenden Perspektive steht die Entwicklung von Human Augmentation noch vor zahlreichen Herausforderungen. So bedarf es bedeutender Erkenntnisgewinne über Hirnregionen und deren Funktionen, höher ortsaufgelöste Bildgebung sowie Verbesserungen bei den Materialien und im Design von Hirnimplantaten, um deren Langzeitstabilität zu garantieren. Auch besteht Potenzial in Bezug auf höhere Qualität und bessere Synchronisation der anfallenden Daten. Weitere Hürden sind der Datenschutz sowie ethische Fragen bezüglich der Manipulation von Gedanken oder Erinnerungen, bezüglich des Missbrauches der Technologie durch autokratische Systeme wie beispielsweise Arbeitgeber oder Regierungen und durch das Militär, aber auch in Bezug auf die für die Weiterentwicklung der Technologie erforderlichen Tierversuche.
In der Öffentlichkeit ist nur wenig über das Forschungsgebiet bekannt. Das widerspiegelt sich auch in den verhältnismässig tiefen Studierendenzahlen in der Schweiz. Zudem sind die regulatorischen Hürden für Forschungsgelder im internationalen Vergleich sehr hoch – insbesondere bei der Genehmigung von Tierversuchen oder für klinische Anwendungen. Oft dauert es Monate, bis entsprechende Bewilligungen vorliegen – eindeutig ein Wettbewerbsnachteil für Schweizer Forschende. Zudem werden dadurch Tierversuche in Länder mit niedrigeren ethischen Standards ausgelagert oder Talente wandern ab. Für Start-ups in der Schweiz ist es dadurch schwierig, das erforderliche Risikokapital zu akquirieren. Abhilfe schaffen könnten eine rationale Argumentation, Transparenz bei den Forschungszielen und weniger Populismus in der politischen Diskussion sowie ein verstärkter Fokus in den Hochschulen auf einen mess- und kommerzialisierbaren Impact der Forschung.
Für industrielle Anwender:innen wird Human Augmentation vor allem in der Produktion eine Rolle spielen. Die Mitarbeitenden werden dadurch entlastet und die Prozesse effizienter. Die Herstellung von Hirn-Computer-Schnittstellen erfordert hochpräzise Fertigungsprozesse sowie interdisziplinäre Teams mit Expertise in Biologie, Informatik, Ingenieurwissenschaften, Mathematik, Medizin und Physik. Gleichzeitig steigen dadurch die Anforderungen an die Fachkräfte, da sowohl technische als auch kommunikative Kompetenzen gefragt sind. Während die Ausbildung von Fachkräften diese Bedürfnisse aufgenommen hat, gibt es insgesamt noch zu wenig Studienabgänger:innen, um den Bedarf in der kommerziellen Entwicklung zu decken.
Die Schweizer Forschungslandschaft ist international gut vernetzt und spielt eine wesentliche Rolle im Bereich von Human Augmentation. Auch bei der Kommerzialisierung steht die Schweiz (noch) gut da. Allerdings werden die Zahlen im internationalen Vergleich immer kleiner, da andere Länder wie China massiv aufrüsten. Die unterfinanzierte Forschung und die hohen regulatorischen Hürden erschweren es allerdings der Schweiz, die entstehende Lücke zu schliessen.
Mit zunehmend präziserer Stimulation von Hirnarealen, wachsender Kenntnis funktioneller Zusammenhänge, leistungsfähigeren Implantaten (grösserer Bandbreite und verbesserter Langzeitstabilität) und/oder gezielter Abgabe von Wirkstoffen direkt im Gehirn entstehen neue Möglichkeiten für die Behandlung neurologischer und psychischer Krankheiten. Ein Ziel in ferner Zukunft könnte sein, nicht nur die Fehlsignale der Nervenfasern zu erfassen, sondern auch die Veränderungen derjenigen Gedanken, die entsprechende Fehlsignale zur Folge haben.
In der Industrie kann ein vermehrter Einsatz von Hirn-Computer-Schnittstellen mittel- bis langfristig eine Revolution auslösen: Nicht nur die Kommunikation von Mensch zu Mensch wird sich ändern, sondern auch die Reaktion des Menschen auf seine Umgebung.
Human Augmentation und insbesondere die Anwendung von Hirn-Computer-Schnittstellen sind disruptive Prozesse, die weitreichendere Folgen haben dürften als die künstliche Intelligenz. Das hat nicht nur Folgen für medizinische Anwendungen, sondern auch in der Arbeitswelt und für das Zusammenleben der Menschen. Aus ethischen Gründen stellt sich allerdings die Frage, in welchen Ländern respektive unter welchen Regierungsformen die Entwicklung stattfinden soll. Es bedarf klarer Rahmenbedingungen und politischer Weichenstellungen. Die Schweiz verfügt über eine starke Basis in Forschung und Entwicklung von Human Augmentation und ist als demokratischer Standort mit hohen ethischen Standards für eine Vorreiterrolle prädestiniert. Dazu müssen allerdings die regulatorischen Hürden gesenkt und Investitionen in die Ausbildung von Fachkräften und in die Förderung von Start-ups getätigt werden.
M de Boeck, K Vaes. (2023) Human augmentation and its new design perspectives.
R Raisamo, I Rakkolainen, P Majaranta, K Salminen, J Rantala, A Farooq. (2019) Human augmentation: Past, present and future.
Human Augmentation, Human Machine Interfaces, Brain Machine Interfaces, Brain Implants, Brain Stimulation, Drug Delivery to the Brain, Multimodal Data Processing
Valérie Barbié (Swiss Institute of Bioinformatics SIB), Wolfger von der Behrens (ETH Zürich), Jocelyne Bloch (Centre hospitalier universitaire vaudois CHUV / EPFL), Miroslav Caban (EPFL), Grégoire Courtine (EPFL), Katrin Crameri (Swiss Institute of Bioinformatics SIB), Iselin Froybu (EPFL), Roger Gassert (ETH Zürich), Raphael Guzman (Universitätsspital Basel), Auke Jan Ijspeert (EPFL), Denis Lalanne (Universität Fribourg), Shih-Chii Liu (Universität Zürich), José del R. Millán (EPFL), Luca Randazzo (EPFL), Botond Roska (Institute of Molecular and Clinical Ophthalmology Basel IOB), Erik Schkommodau (FHNW), Mahsa Shoaran (EPFL), Janos Vörös (ETH Zürich), Robert Waterhouse (Swiss Institute of Bioinformatics SIB), Mehmet Fatih Yanik (ETH Zürich)
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