Bakteriophagen

Expert:innen: Lars Fieseler (ZHAW), Alexander Harms (ETH Zürich), Martin Loessner (ETH Zürich), Shawna McCallin (Universitätsklinik Balgrist) 

Die zunehmende Resistenz gegen Antibiotika ist für die Gesundheitsversorgung eine grosse Bedrohung. Jährlich sterben mehr als eine Million Menschen an bakteriellen Infektionen, die auf die Behandlung mit herkömmlichen Antibiotika nicht ansprechen. Gleichzeitig suchen die Lebensmittelindustrie und Landwirtschaft nach zusätzlichen Mitteln für die Keimkontrolle. Wie kann gezielt gegen bakterielle Keime vorgegangen werden, ohne Resistenzen weiter zu fördern? Eine alte Technologie erlebt dabei ein Comeback: Bakteriophagen – Viren, die Bakterien gezielt infizieren und abtöten. Diese «Bakterienjäger» kommen in der Umwelt und auch innerhalb von Organismen natürlich vor und sind eine vielversprechende Alternative zu Antibiotika. 

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Definition

Bakteriophagen, oder kurz Phagen, sind natürliche Viren, die ausschliesslich Bakterien als Wirtszellen nutzen, um sich zu vermehren. Während des Vermehrungsprozesses zerstören sie die infizierten Bakterien. Phagen sind hochspezifisch: Eine Phagenart greift meist nur eine bestimmte Bakterienart an und lässt andere Mikroorganismen unangetastet. Sie kommen überall in der Umwelt – auch im menschlichen Körper – vor und sind deshalb für Mensch und Umwelt harmlos. Sie existieren in einer unglaublichen Vielfalt und decken so ein breites Spektrum an Zielorganismen ab. 

Im Vergleich zu Antibiotika, die eine breite Wirkung haben und auch erwünschte Bakterien abtöten, funktionieren Phagen wie ein Präzisionswerkzeug: Sie greifen gezielt schädliche Bakterien an, während nützliche Bakterien verschont bleiben. 

Heutige Anwendungen und Chancen 

Phagen gelten als Hoffnungsträger im Kampf gegen antibiotikaresistente Infektionen. In der Schweiz ist Phagentherapie derzeit nur im Rahmen der Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW zu experimenteller Therapie möglich, da es keine offizielle Zulassung durch Swissmedic gibt. Demnach dürfen Phagen bei Patient:innen nur eingesetzt werden, wenn sich diese in einer lebensbedrohlichen Gesundheitslage befinden oder alle zugelassenen Therapien nicht wirksam oder ungeeignet sind und die Patient:innen der Therapie zugestimmt haben. Erfolgreiche Einzelbehandlungen, zum Beispiel bei zystischer Fibrose, Harnwegsinfektionen oder bei Infektionen von Gelenkprothesen, zeigen das Potenzial der Therapie, führen aber auch zu einem medialen Hype und übersteigerten Erwartungen. Belgien nimmt bei den medizinischen Anwendungen dank flexibler Regularien eine Vorreiterrolle ein. Portugal, die USA und Australien dürften nachziehen. In Georgien sind Phagen eine etablierte Therapie, die allerdings nicht unseren Standards entsprechend wissenschaftlich begleitet ist. 

In der Lebensmittelindustrie werden Phagen präventiv in der Produktion eingesetzt, um potenziell krankmachende Bakterien zu eliminieren. Sie stellen eine zusätzliche Hürde für pathogene Keime dar und gewährleisten dadurch die Lebensmittelsicherheit. Phagen werden als Hilfsstoff in der Verarbeitung und nicht als Zusatzstoff eingesetzt und müssen nicht GMP-Standards erfüllen. GMP steht für Good Manufacturing Practice, also eine gute Herstellungspraxis zum Beispiel von Lebens- und Arzneimitteln. Die präventive Behandlung von Lebensmitteln gegen Befall mit Listerien oder Salmonellen ist global momentan die primäre Anwendung. In den USA, Kanada, Neuseeland und einigen asiatischen Ländern gibt es bereits eine Palette an kommerziellen Phagen-Produkten. In der Schweiz hingegen sind Phagen gegen Listerien nur in der Käseherstellung als Ausnahme möglich, allerdings nach Bewilligung und unter Aufsicht des Bundesamts für Gesundheit BAG. In der EU fehlt für eine Zulassung der Konsens unter den Mitgliedsstaaten; die nordischen Länder agieren mit einer Ausnahmeregelung für den Einsatz von Phagen in der Lachszucht und -verarbeitung.  

Der Einsatz von Phagen in der Landwirtschaft ist eine potenzielle Alternative zu Antibiotika und anderen chemischen Pestiziden. Vorteilhaft ist, dass Phagen für Anwendungen in der Landwirtschaft nicht nach den GMP-Richtlinien hergestellt werden müssen. Ein Phagencocktail – das heisst ein Mix aus verschiedenen Phagen – soll präventiv bei Bedingungen angewendet werden, die bekanntermassen Infektionen begünstigen. Im Vordergrund stehen das Bakterium Erwinia amylovora, der Auslöser von Feuerbrand bei Obstbäumen, und Bakterienarten, die in Ländern wie Italien und Spanien Olivenbäume befallen. Während der präventive Einsatz von Phagen in der US-Landwirtschaft genehmigt ist, beschränkt sich die Zulassung in der EU auf Erwinia amylovora; in der Schweiz sind Phagenanwendungen bei Freiluftkulturen nicht erlaubt. 

Für die moderne Medizin stellen Phagen eine Alternative zu Antibiotika dar, die wegen der hohen Spezifität – also wegen des engen Wirtspektrums – auch bei Resistenzen greift. Es gilt jedoch, die zu behandelnde Infektion in Bezug auf die Erreger zu verstehen. Denn nur so kann Wirksamkeit erreicht werden. In der Lebensmittelindustrie verspricht der Einsatz von Phagen eine verbesserte Sicherheit der Produkte; in der Landwirtschaft könnten sie Pestizide auf chemischer Basis zumindest teilweise ablösen und so eine grüne Alternative darstellen. 

Obwohl die heute eingesetzten Phagen überzeugend wirken, steckt die Phagenbiologie noch in der Entwicklung. Es ist eine Chance für die akademische Forschung, die Phagen besser zu verstehen und anzupassen. Auch zeigt die Vergangenheit, dass Phagen die Quelle von wertvollen Werkzeugen wie Restriktionsenzymen für die Molekularbiologie sind. Die Phagenforschung ist zudem ein Feld, in dem die Chance auf Kommerzialisierung der Ergebnisse aus der Grundlagenforschung hoch ist. Gerade in Anbetracht der Infektionskrankheiten, die aufgrund der Klimaveränderung und der demografischen Entwicklung vermehrt auftreten, birgt sie grosses wirtschaftliches Potenzial. Schweizer Forschungsgruppen sowohl an Hochschulen als auch in Universitätsspitälern leisten Pionierarbeit in der Grundlagenforschung; die Kommerzialisierung hinkt der Forschung allerdings hinterher und bietet Chancen für Start-ups. 

Herausforderungen 

Trotz des grossen Potenzials stehen Phagenanwendungen vor etlichen Herausforderungen. Denn noch ist der Nachweis für die medizinische Wirksamkeit mit internationalen klinischen Studien nicht erbracht. Bisher gilt als Voraussetzung für klinische Studien die Verwendung von GMP-konformen Phagen, deren Produktion teuer und aufwendig ist. Für eine erfolgreiche Behandlung muss der zu verabreichende Phage zudem an die bakteriellen Verursacher der Infektion angepasst werden, was zusätzliche regulatorische Herausforderungen mit sich bringt. Für medizinische Anwendungen von Phagen fehlt es in der Schweiz an klaren Rahmenbedingungen und Zulassungsverfahren; solche existieren für Antibiotika, aber nicht für deren biologischen Ersatz. Eine Orientierung an Belgien und seinen progressiven Rahmenbedingungen sowie ein klares Commitment der Entscheidungsträger:innen in Politik und Wirtschaft dürften sich für die Schweiz lohnen. Nur so können Projekte initiiert werden, welche die Grundlagenforschung mit den Kliniken verbinden und Industriepartner mobilisieren. Nur so kann die Phagentherapie ihr volles Potenzial entfalten. 

Auf technischer Ebene ist die Veränderung des Phagengenoms zur Steigerung der Wirksamkeit eine Herausforderung. Denn für viele Phagenarten funktioniert eine komplett synthetische Herstellung wegen der Grösse der Genome (noch) nicht zuverlässig. Zudem erschwert die physische Grösse der Phagenpartikel deren Anwendungen: Sie erreichen viele Stellen im Körper nicht und eignen sich nur zur Behandlung von leicht erreichbaren Systemen wie Harnsystem, Haut, Schleimhäute, Knochenoberflächen, Augen und Implantate. 

Fokus Industrie 

Industriell werden Phagen vor allem in der Produktion eine Rolle spielen. Sie bieten Unternehmen eine einfache Möglichkeit, flexible und grüne Massnahmen für verbesserte Hygiene und biologische Kontrolle zu ergreifen. Für reine Anwender:innen reicht ein generelles Verständnis von Hygiene und guten Herstellungspraktiken aus. Für Firmen, welche die bakteriellen Wirte charakterisieren und die Phagen herstellen, liegen Chancen in der Produktion und in Dienstleistungen. Allerdings sind hier die Anforderungen an die Mitarbeitenden höher: Mikrobiologische und biotechnologische Kenntnisse auf Hochschulniveau sind eine Voraussetzung. 

Momentan halten sich Angebot und Nachfrage in der Schweiz in Bezug auf die Ausbildung die Waage. Allerdings gibt es keine vertiefenden Studienmodule zu Phagen. Sollten die Rahmenbedingungen aber eine breite Implementation der Technologie ermöglichen, werden die Ausbildungsplätze in der Schweiz limitierend. Auch wäre es hilfreich, den Studierenden in den entsprechenden Fachrichtungen ein verstärktes Verständnis für klinische Studien zu vermitteln. 

Internationale Perspektive 

Auf Forschungsebene ist die Schweiz im internationalen Vergleich sehr aktiv und die Gruppen verfügen über eine sehr gute Kompetenz. In Bezug auf die Kommerzialisierung ist das Potenzial in Anbetracht der relativ grossen Anzahl an Forschungsgruppen nicht ausgeschöpft. 

Landesspezifische Regulatorien prägen den Einsatz von Phagen in der Medizin, Lebensmittelindustrie und Landwirtschaft. Einzelne Länder wie Belgien haben in Bezug auf medizinische Behandlungen progressive Rahmenbedingungen, andere wie die USA in Bezug auf präventive Anwendungen in der Lebensmittelindustrie und Landwirtschaft. Für die Schweiz ist im internationalen Vergleich von Vorteil, dass Swissmedic der Anwendung von genetisch manipulierten Phagen offen gegenübersteht – sofern denn Phagen zugelassen werden. 

Zukünftige Anwendungen 

Vier Stossrichtungen dürften die zukünftigen Anwendungen prägen: 1) Anpassung und Veränderung des Wirtspektrums und der Wirksamkeit, 2) Phagen als Transportvehikel, 3) die Entwicklung von Reporterphagen und 4) Produktion spezifischer Phagenproteine. 

Wurden früher Phagen direkt aus der Natur isoliert und gegen den zu bekämpfenden bakteriellen Stamm gescreent, werden sie bereits heute genetisch verändert. So können die bakteriellen Abwehrmechanismen besser umgangen und die Wirksamkeit erhöht werden. Zugleich kann mit genetischer Modifikation auch das Wirtspektrum verändert werden. Beispielsweise können die gut erforschten Phagen gegen Escherichia coli so modifiziert werden, dass sie Bakterien der Gattung Klebsiella infizieren und abtöten. 

Der Phage kann ferner als Transportvehikel für fremde Proteine eingesetzt werden. Sein Genom wird dazu beispielsweise mit lytischen Enzymen ergänzt, die das Wirtsbakterium nach der Infektion produziert, in seine Umgebung abgibt und so Bakterien in der Umgebung zerstört. Bei solchen Modifikationen gibt es allerdings Limitationen in Bezug auf die Maximalgrösse des Genoms. 

Alternativ ist es denkbar, dem Phagengenom eine Sequenz für Luciferase, einem lichtemittierenden Enzym, einzubauen. So werden infizierte Zellen markiert und sichtbar gemacht, sei es bei einer Infektion oder bei kontaminierten Lebensmitteln. Der Phage wird zum Reporter. 

Phagen sind für die direkte Sekretion aus dem Bakterium zu gross und exprimieren deshalb Endolysine, um die bakterielle Zellwand zu sprengen. Solche Phagenproteine können in vitro ohne den Phagen hergestellt und beispielsweise in der Medizin für lokale Anwendungen wie Aknecremes genutzt werden. Auch sind diese Enzyme aufgrund ihrer geringen Grösse für Anwendungen im Gewebe oder Blutstrom geeignet. 

Bakteriophagen sind eine natürliche, zielgerichtete und nachhaltige Lösung für einige der grössten Herausforderungen unserer Zeit. Ob in der Medizin, Lebensmittelproduktion oder Landwirtschaft – Phagen haben das Potenzial, Antibiotika zu ergänzen oder sogar zu ersetzen und so zur Eindämmung der globalen Resistenzkrise beizutragen. 

Die Schweiz verfügt über das nötige Know-how und die Forschungsinfrastruktur, um eine führende Rolle in der Entwicklung und Kommerzialisierung von Phagen einzunehmen. Dazu braucht es klare Regulierung und zielgerichtet Projekte, in denen Hochschulen, Kliniken und die Industrie zusammenarbeiten. 

Weiterführende Informationen

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S Meile, J Du, S Staubli, S Grossmann, H Koliwer-Brandl, P Piffaretti, L Leitner, CI Matter, J Baggenstos, L Hunold, S Milek, C Guebeli, M Kozomara-Hocke, V Neumeier, A Botteon, J Klumpp, J Marschall, S McCallin, R Zbinden, TM Kessler, MJ Loessner, M Dunne, S Kilcher. (2023) Engineered reporter phages for detection of Escherichia coli, Enterococcus, and Klebsiella in urine.  

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JP Pirnay, G Verbeken, PJ Ceyssens, I Huys, D De Vos, C Ameloot, A Fauconnier. (2018) The magistral phage.  

Phagistry. Creating and sharing knowledge of phage therapy

Keywords

Phages, Bacteriophages, Bacterial Viruses, Antibiotic Resistance, Antimicrobial Resistance, Endolysin, Lysin 

Akademische Akteur:innen

Diego Andrey (Hôpitaux universitaires de Genève HUG), Christian van Delden (Hôpitaux universitaires de Genève HUG), Lars Fieseler (ZHAW), Benoit Guery (Centre hospitalier universitaire vaudois CHUV), Alexander Harms (ETH Zürich), Angela Hutter (Hôpitaux universitaires de Genève HUG), Thomas Kessler (Universitätsklinik Balgrist), Lorenz Leitner (Universitätsklinik Balgrist), Yuping Li (Universität Basel), Martin Loessner (ETH Zürich), Shawna McCallin (Universitätsklinik Balgrist), Carlos-Andrés Peña-Reyes (HEIG-VD), Yok-Ai Que (Universität Bern), Grégory Resch (Centre hospitalier universitaire vaudois CHUV) 

Firmen

ACD Pharma, Micreos GmbH, Nemis Technologies AG