Steht ein Paradigmen­wechsel in der Krebsdiagnostik an?

Expert:innen: Ralph Schiess (Proteomedix)

Was, wenn ein smarter Bluttest das Leben von Millionen Männern verändern könnte? Genau daran arbeitet das Schweizer Unternehmen Proteomedix – mit dem Ziel, Krebs früher zu erkennen, Leiden zu verringern und die Diagnosen eindeutiger zu machen.

In westlichen Industrieländern betrifft Prostatakrebs rund 10 Prozent aller Männer. Mit einem Gesamtanteil von gut 30 Prozent an allen Krebsdiagnosen ist diese Krebsart nicht nur die häufigste bei Männern, sondern sogar die häufigste überhaupt. Das Risiko zu erkranken, ist unter anderem abhängig von der genetischen Veranlagung und vom Alter. Typisch für Prostatakerbs ist, dass die frühen Stadien meist ohne Symptome ablaufen und der Krebs deshalb oft zu spät diagnostiziert wird.

Ein Hinweis auf möglichen Prostatakrebs kann ein Gewebemarker wie das prostataspezifisches Antigen PSA liefern, das bereits im frühen Krankheitsstadium im Blut nachweisbar ist. Deshalb wird die PSA-Konzentration bei Männern über 50 Jahren routinemässig bestimmt. Ist dieser Wert erhöht, besteht ein Verdacht auf eine Krebserkrankung. Allerdings bedeutet ein erhöhter PSA-Wert nur in wenigen Fällen, dass tatsächlich auch ein Prostatakrebs vorliegt. Der PSA-Wert wird nämlich auch von weiteren Faktoren beeinflusst. Prostatavergrössungen, die mit zunehmendem Alter häufiger auftreten, Entzündungen und Medikamente, ja sogar sportliche Aktivitäten oder Geschlechtsverkehr können den PSA-Wert ebenfalls erhöhen. Zudem unterliegt der Wert täglichen Schwankungen, sodass eine Einzelmessung schwierig zu interpretieren ist. Trotzdem wird bei einem erhöhten PSA-Wert mehrheitlich eine zusätzliche Magnetresonanztomografie (MRI) oder eine Biopsie an der Prostata durchgeführt, um Sicherheit in der Diagnose zu erhalten.

Ein kleiner Stich statt eines operativen Eingriffs

Eine solche Biopsie ist belastend für Betroffene und mit Risiken verbunden. Zu den möglichen Komplikationen gehören Infektionen, Blutungen und Schmerzen. Es ist wünschenswert, die Anzahl Biopsien zu reduzieren – nicht nur für das Wohlbefinden der betroffenen Personen, sondern auch zur Kostenreduktion.

Die 2010 als Spin-off der ETH Zürich gegründete Schweizer Firma Proteomedix nahm sich dieser Herausforderung an und entwickelte den nicht-invasiven diagnostischen Test Proclarix®. Das ist ein einfacher Bluttest, der für die Risikoabschätzung eingesetzt werden kann. CEO Ralph Schiess erklärt: «Ziel des Tests ist es, ärztliches Personal und Betroffene bei der Entscheidung zu unterstützen, ob eine Biopsie tatsächlich erforderlich ist.»

Wie funktioniert diese diagnostische Wunderwaffe? Mehr Daten machen den Unterschied: Der Test Proclarix berücksichtigt nicht nur den PSA-Wert, sondern ermittelt auch die Konzentration von spezifischen Biomarkern im Blut, die auf das Vorhandensein eines Tumors hinweisen. Ein bioinformatischer Algorithmus integriert alle relevanten Daten aus Klinik und Diagnostik und berechnet daraus einen Risk Score, der das individuelle Risiko einer jeden Person abbildet. Die ausführliche Erklärung ist komplizierter und bedient sich Erkenntnissen aus der Proteomik, der Beschäftigung mit der Gesamtheit aller Proteine in einer biologischen Probe oder einem lebenden Organismus. Im Zentrum steht der Phosphoinositid-3-Kinase-Signalweg. Dieser übermittelt über zahlreiche Zwischenschritte Signale von der Zelloberfläche ins Zellinnere und in den Zellkern und spielt zudem eine wichtige Rolle bei der Regulierung von Wachstum, Teilung und Überleben von Zellen. Ist dieser Signalweg konstant hyperaktiv, unterstützt er das überbordende Wachstum von Krebszellen – auch bei Prostatakrebs. Die beiden Enzyme Thrombospondin 1 und Cathepsin D beeinflussen den Phosphoinositid-3-Kinase-Signalweg.

Der Bluttest Proclarix misst neben der Konzentrationen von PSA auch jene von Thrombospondin 1 und Cathepsin D. Die Erkenntnisse werden mit dem Alter kombiniert und von einem patentierten Algorithmus in den Risk Score umgerechnet. Mit Erfolg: Der Test erkennt mit sehr hoher Genauigkeit Prostatakrebs und reduziert so nicht nur die Anzahl von (unnötigen) Biopsien um 43 Prozent, sondern kann bei einem negativen Test mit grosser Sicherheit garantieren, dass trotz erhöhtem PSA-Wert kein Prostatakrebs vorhanden ist. Diese Sicherheit in der Diagnostik entlastet die betroffenen Personen physisch und psychisch. Ralph Schiess ist begeistert von den neuen Möglichkeiten: «Die Tatsache, dass ein einfacher Bluttest die Notwendigkeit invasiver Biopsien reduziert und so eine Vielzahl gesunder Männer nicht unnötigem Stress und Risiken aussetzt, erleichtert und inspiriert mich.»

Internationale Anerkennung und Weiterentwicklung

Stand heute ist Proclarix in der Europäischen Union, Schweiz und in Grossbritannien zugelassen. Seit 2020 ist der Test in diversen europäischen Ländern wie Deutschland, Grossbritannien, Italien und der Schweiz verfügbar und wird in Pilotanwendungen eingesetzt. Allerdings wird er noch nicht von den Krankenkassen erstattet, was eine breite Anwendung erschwert. Seit 2023 ist Proclarix in den Richtlinien der Europäischen Gesellschaft für Urologie und der Amerikanischen Urologischen Gesellschaft verankert. Dies ist ein bedeutender Schritt in Richtung Kostenübernahme durch die Krankenkassen und Marktzulassung in den USA.

Proteomedix hat sich zum Ziel gesetzt, den Test Proclarix und den Risk Score weiterzuentwickeln. Bildgebende Verfahren wie MRI sollen integriert werden, um den Ansatz noch multimodaler zu machen. Immer mit der Vision vor Augen, den Test noch leistungsfähiger und aussagekräftiger zu machen und die Diagnostik bei Prostatakrebs zu revolutionieren.

Interdisziplinäre Kooperationen als Erfolgsmodell

Die Entwicklung von Proclarix lebt von der Zusammenarbeit von Forschenden aus den Bereichen der Biotechnologie, Biostatistik, Medizin sowie des Produkt- und Qualitätsmanagements. «Brücken müssen gebaut und eine partnerschaftliche Zusammenarbeit muss angestrebt werden», ist Ralph Schiess überzeugt. Denn dank Partnerschaften sollen weitere Biomarker gefunden und in diagnostische Tests integriert werden. In Kombination mit KI-gestützten Analysen ergeben sich so neue und effektive Werkzeuge, um individuelle Risikoprofile zu erstellen. Nicht nur für Prostatakrebs, sondern auch für andere Krebsarten. Proclarix könnte am Anfang eines Paradigmenwechsels in der Krebsdiagnostik und somit auch der Krebstherapie stehen.