Expert:innen: Stefanie Flückiger-Mangual (Tolremo)
Krebszellen sind Meisterinnen der Täuschung: Sie programmieren sich um, entziehen sich Medikamenten und nutzen sogar Tricks aus der Embryonalentwicklung, um dem Immunsystem ein Schnippchen zu schlagen. Doch das Schweizer Start-up Tolremo hat einen bahnbrechenden Wirkstoff entdeckt, der das Spiel der Krebszellen durchkreuzt. Dieser schenkt Krebspatient:innen neue Hoffnung. Und sein Entwicklungsansatz ist so innovativ, dass er selbst Fachpersonen überrascht.
Tolremo
Wildwuchs im Körper toleriert das Immunsystem eigentlich nicht. Doch Krebszellen halten sich nicht an diese Regel. Trotz einer feindlichen Umgebung schaffen sie es, das Immunsystem zu überlisten und sich unkontrolliert zu vermehren. Erst in den letzten Jahren konnten Forschende zeigen, wie Krebszellen dies schaffen: Sie programmieren Signalkaskaden, die Botschaften von der Zelloberfläche bis zur genetischen Information im Zellkern leiten und stellen so die Bausteine und die nötige Energie für die Vermehrung und das Überleben sicher.
Blockieren Krebsmedikamente diese Umprogrammierung, finden Tumorzellen alternative Wege, um das Immunsystem auszutricksen. Forschende haben mit Erstaunen festgestellt, dass Krebszellen in solchen Fällen andere Signalkaskaden aktivieren, darunter sogar solche, die in der Regel nur während der Embryonalentwicklung aktiv sind. So sprechen rund 40 Prozent der Krebspatient:innen auf eine medikamentöse Therapie gar nicht erst an, und selbst bei einem initialen Erfolg entwickeln die Krebszellen nach sechs bis zwölf Monaten eine Resistenz gegen den Wirkstoff. Die Tumore treten wieder auf und wachsen weiter. Die therapeutische Strategie besteht denn auch in der gleichzeitigen Abgabe zweier Medikamente: Eines blockiert die ursprüngliche Signalübertragung, das andere inaktiviert die Ausweichroute.
Das im Jahr 2017 gegründete Unternehmen Tolremo durchsuchte eine umfangreiche chemische Bibliothek mit 16’000 Substanzen, um ein Molekül zu finden, das die Ausweichkaskaden in Krebszellen blockiert. Hierfür nutzten sie einen patentierten Test mit Tumorzellen in Reagenzgläsern, dessen Ergebnis nach einem einfachen binären System ausgelesen wurde: Fluoreszenz ja oder nein. Leuchteten die Zellen nach Zugabe eines Moleküls auf, wurde die Signalübertragung entlang der Ausweichkaskaden blockiert; leuchteten die Zellen hingegen nicht, blieben die Überlebenswege der Krebszellen aktiv. Die beste gefundene Substanz, TT125-802, war ein optimierter Treffer, der in insgesamt 802 Schritten verbessert wurde. Um herauszufinden, wie genau dieser Wirkstoff funktionierte, wurde er anschliessend mit einer Art «molekularer Angel» ausgestattet und zu der Proteinsuppe aus Krebszellen gegeben. Dies ermöglichte es den Forschenden, das Zielprotein – also den Angriffspunkt des Wirkstoffs – zu isolieren und genau zu identifizieren.
Was überzeugend einfach klingt, ist in der Krebsforschung aussergewöhnlich. Denn am Beginn der meisten Wirkstoffscreenings steht das isolierte Zielprotein, dessen Aktivität blockiert werden soll. Erst danach werden Moleküle, die erfolgreich an das Zielprotein binden, in Tests mit Krebszellen auf ihre Wirksamkeit verifiziert. Oder wie es Stefanie Flückiger-Mangual, Mitgründerin und CEO von Tolremo ausdrückt: «Wir haben bei der Entwicklung des Wirkstoffes das Pferd quasi von hinten aufgezäumt.»
An der molekularen Angel blieben zwei strukturell fast identische Eiweisse hängen, von denen bekannt ist, dass sie in den Ausweichkaskaden eine zentrale Rolle spielen. TT125-802 ist hochspezifisch und bindet nur an das Aktivitätszentrum dieser beiden Proteine, nicht aber an ähnliche Strukturen in anderen Eiweissen. Dank dieser Spezifität sind für Patient:innen weniger Nebenwirkungen zu erwarten und die Substanz ist vielversprechend für medizinische Anwendungen..
Der Fokus von Tolremo liegt auf Lungen-, Prostata- und Darmkrebs. In der präklinischen Phase wurde TT125-802 deshalb in Zell- und Mausmodellen dieser Krebsarten getestet. Die Daten zeigen, dass die Kombination von TT125-802 mit einem etablierten Wirkstoff zu besseren und dauerhafteren Ergebnissen bei der Tumorbehandlung führt als die Behandlung mit dem zugelassenen Wirkstoff allein.
Im Juni 2025 publizierte Tolremo Daten aus der ersten Phase der laufenden klinischen Studie, welche für potenzielle Krebsmedikamente mit Patient:innen durchgeführt werden. Nicht nur blieben die gefürchteten Nebenwirkungen aus, sondern die Behandlung mit TT125-802 bremste auch das Tumorwachstum oder führte sogar dazu, dass sich der Tumor zurückbildete. «Unsere Angst, den Patient:innen falsche Hoffnung zu machen, war unbegründet», zeigt sich Stefanie Flückiger erleichtert. Der Weg für TT125-802 scheint vorgegeben, der Verkauf des Moleküls an eine Grossfirma für die klinische Zulassung Realität und nicht mehr Wunschdenken.
Alles begann während Stefanie Flückigers Doktorarbeit an der ETH Zürich. Sie blühte zwar in ihrer Forschungsarbeit auf, aber ihr visionärer Doktorvater musste sie fast zum Glück, oder besser: zur Firmengründung, zwingen. Nach der Patentierung der Screeningtechnologie forderte er sie auf, über das Wochenende einen Businessplan für einen möglichen Investor zu erarbeiten. Gesagt, getan. Die Idee und deren Weiterentwicklung musste in die schnörkellose Sprache der Geschäftswelt übersetzt werden. «Ich fühlte mich, als ob ich viel zu schnell einen Berg herunterrenne», blickt Stefanie Flückiger zurück. Unterdessen ist sie ihm dankbar. Sie kommt ihrem Traum, das Leben von Krebspatient:innen zu verlängern, einen grossen Schritt näher. So geht Inspiration.